Heike Sandberg verliert langsam die Geduld. Die Pianistin und Sängerin zeigt grundsätzlich Verständnis für die politischen Bemühungen, die Coronapandemie mit Kontaktbeschränkungen einzudämmen. Dass die für den November (und vermutlich darüber hinaus) dekretierten Schutzmaßnahmen aber vorrangig die Kreativbranche und Gastronomie treffen, hält sie für eine „sehr einseitige Politik“. Sandberg, die in Wirklichkeit anders heißt, hat seit Beginn der Coronakrise nicht mehr auf der Bühne gestanden. Auf die Konzerteinkünfte ist sie dringend angewiesen. Mit ihrer Band hat sie zwar ein halbes Dutzend CDs veröffentlicht, doch von den sinkenden Verkäufen können nur noch wenige Musikerinnen leben. Ähnlich wie Bücher, so Sandberg, seien Alben heute vor allem „ein Werbeinstrument für öffentliche Auftritte“.
Die aber fallen in diesem Jahr fast komplett aus. Eine ganze Branche, die mit rund 1,5 Millionen Menschen mehr Leute beschäftigt als die Autoindustrie, weiß nicht, wie sie die Krise überstehen soll. Auf Demos des Bündnisses „Alarmstufe Rot“ protestieren Schausteller, Lichttechnikfirmen, Fitnesstrainerinnen und Messebauer. Sie arbeiten in Miniunternehmen oder als Soloselbstständige, beackern oft mehrere Geschäftsfelder gleichzeitig. Heike Sandberg hatte immer Nebenjobs, unterrichtete an Musikschulen und leitete Chöre.
Nach dem ersten Lockdown bot sie Bildung per Onlinekonferenz an, im Sommer öffnete sich ein kurzes Zeitfenster für Präsenzveranstaltungen. Nun sind erneut sämtliche Angebote gestrichen, mit verheerenden Folgen. Denn in der für Freiberufliche typischen „Basar-Ökonomie“ richtet sich die Entlohnung nach der Nachfrage. Wenn die gegen Null geht, gibt es nichts zu tun – und kein Geld.
Realitätsferne Bürokratie
Man stelle sich vor: Die für das faktische Berufsverbot Verantwortlichen gehen mit gutem Beispiel voran. Abgeordnetendiäten und Ministergehälter sinken um 30 Prozent, aufgehoben wird die Kürzung erst, wenn „es das Infektionsgeschehen zulässt“. Ein unrealistisches Szenario, doch immerhin thematisiert Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU), im Gegensatz zu Helge Braun (CDU) oder Karl Lauterbach (SPD), die Probleme der Kleinstunternehmen. Er verspricht „außerordentliche Wirtschaftshilfen“ von zehn Milliarden Euro.
Die Zahlungen könnten allerdings zu spät kommen. Wie Künstlern oder Eventdienstleistern im Detail geholfen wird, darüber herrscht im November ähnliche Unklarheit wie im März. Damals bewilligten Bund und Länder „Corona-Soforthilfen“, die ihre Tücken hatten. Keine Ausgaben für Lebenshaltung, ausschließlich die bei vielen Soloarbeitern geringen „Betriebskosten“ konnten geltend gemacht werden. Nur einzelne Bundesländer, etwa Nordrhein-Westfalen, garantierten Einkommensersatz wie einen „Unternehmerlohn“ von 1.000 Euro. Warnend kündigte man die spätere Prüfung der Bedürftigkeit an, drohte mit dem Vorwurf des Subventionsbetrugs.
Im Juni folgte dann eine „Überbrückungshilfe“ mit verschärften Auflagen: Die unverständlichen Formulare ausfüllen dürfen seither nur (kostspielige) Steuerberater, die angehalten sind, Einnahmen und Ausgaben vorab durchzurechnen. Das abschreckende Prozedere ließ das Interesse rapide sinken: Waren es bei der leicht zugänglichen Soforthilfe rund zwei Millionen AntragstellerInnen, so machten sich ab Juni noch gut hunderttausend Menschen die Mühe. Ende Oktober waren nicht einmal zwei der bereitgestellten 25 Milliarden Euro abgerufen. Nur dank dieser Vergraulungstaktik kann Finanzminister Olaf Scholz jetzt stolz betonen, es sei genug Geld da, um „Branchenlösungen“ für Veranstalter und ihre Zulieferer umzusetzen.
Die bisher bekannten Details des neuen Instruments folgen der Devise: Wozu vereinfachen, wenn es auch komplizierter geht? 75 Prozent der Einkünfte im Vorjahresmonat würden ersetzt, heißt es. Doch Selbstständige kennen keine regelmäßigen Gehaltszahlungen zu einem festen Datum, es ist purer Zufall, ob ein Honorar am 31. Oktober oder am 2. November eintrifft. Die Hilfe von einem solchen „Bezugsrahmen“ abhängig zu machen, belegt die realitätsferne Blindheit von Entscheidungsträgern in unkündbarer Stellung. Inzwischen wurde angekündigt, sich alternativ am Monatseinkommen im Jahresschnitt zu orientieren. Sonst bleibt den Betroffenen Hartz IV. Den entwürdigenden Gang zum Amt scheuen die meisten schon deshalb, weil dort verlangt wird, dass sie zunächst ihr Gespartes ausgeben. Auf dieses Polster aber sind sie dringend angewiesen, weil es niedrige (oder nicht vorhandene) Rentenzahlungen ausgleicht. Immerhin wurde das Schonvermögen auf 60.000 Euro angehoben, „erleichterter Zugang zur Grundsicherung“ heißt das im Bürokratendeutsch.
Nicht nur Regierungsbeamte, auch die Gewerkschaften haben die Nöte von Selbstständigen kaum auf dem Schirm. Bei von der Großindustrie geprägten Organisationen wie der IG Metall verwundert das wenig. Aber wo bleibt der laute Protest von Verdi gegen schikanöse Kontrollen von Selbständigen? Warum reicht die Dienstleistungsgewerkschaft keine Musterklage gegen die (von Verwaltungsrechtlern angezweifelte) Pflicht zur Rückzahlung der Soforthilfe ein? Die Antwort ist simpel: Die Gewerkschaften betrachten sich vor allem als Lobby der fest Angestellten; Selbstständige gehören nach dieser Denkweise eigentlich zum Unternehmerlager. Zwar hat Verdi ein kleines Referat für die Zielgruppe eingerichtet, weil auch freie Künstlerinnen oder Medienleute Mitglieder sind. Der interne Einfluss der engagierten Abteilung ist jedoch so begrenzt wie ihre öffentliche Wirksamkeit.
Flexibel, prekär, selbstständig
Corona legt die Illusionen offen, die sich Kleinunternehmen lange gemacht haben. Begonnen hat diese Ideologieproduktion schon in der Ära der Agenda 2010. Der „Existenzgründungszuschuss“, der damals Arbeitslosigkeit reduzieren sollte, löste eine Welle neuer Ein-Personen-Firmen aus. KritikerInnen warnten früh, dass viele von ihnen scheitern oder auf Tagelöhner-Niveau stagnieren würden. Der unsinnige Begriff „Ich-AG“ traf offenbar einen Nerv. Während staatliche Absicherungssysteme bröckelten, trommelten Wirtschaftsberater mit blumigen Werbefloskeln für die Idee, „unbewegliche“ Arbeitnehmer durch „flexible“ Auftragnehmer zu ersetzen. Neoliberale Denkfabriken monierten eine angeblich fehlende „Kultur der Selbstständigkeit“, doch im internationalen Vergleich gibt es für die Klagen wenig Grund. Der Anteil der freiberuflich Erwerbstätigen beträgt hierzulande rund zehn Prozent, ähnlich wie in benachbarten Staaten oder den USA.
Wegen der Fixierung der Politik auf feste Beschäftigung fehlen Debatten über grundlegende Konzepte zur Unterstützung von Kleinstfirmen. Man könnte zum Beispiel eine spezielle Arbeitslosenversicherung für Selbstständige entwickeln oder die Idee der Künstlersozialkasse auf weitere Berufe übertragen. Die ermöglicht Kunst- und Medienschaffenden den Zugang zur gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung bei günstigen Tarifen. Ein anderer Vorschlag: Der Staat könnte die Sozialbeiträge prekärer Selbständiger zeitweise ganz übernehmen. Für festangestellte Kurzarbeiter, wie Arbeitsminister Hubertus Heil ständig betont, ist das selbstverständlich.
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