Matthias Naumann war geschockt, als seine Frau einen Schlaganfall erlitt und im Krankenhaus zunächst in Lebensgefahr schwebte. Sie überlebte und erholte sich danach mehrere Wochen in einer Reha-Einrichtung. Wegen der Corona-Regeln konnte Naumann sie nur für kurze Zeit besuchen, er stürzte sich stattdessen in andere Aktivitäten. Weil klar war, dass seine Partnerin künftig auf einen Rollstuhl angewiesen sein würde, ließ er das gemeinsame Reihenhaus aufwendig umbauen. Handwerker installierten einen in den bisherigen Keller führenden Treppenlift, dort entstand ein Mini-Appartement mit behindertengerechter Dusche und ebenerdigem Zugang zum Garten. Michael Wegberg pflegt seine an multipler Sklerose erkrankte Mutter. Nach dem Tod des Vaters hat er sie zu sich in die eigene Wohnung geholt. Wegberg leistet nicht nur alltägliche Hilfsdienste oder begleitet sie zu Arztbesuchen. Als ehemaliger Sportler hat er zudem spezielle körperliche Übungen entwickelt, deren regelmäßige Anwendung die Beschwerden seiner Mutter spürbar lindern. Unterstützung fand er auf Webseiten mit entsprechenden Beratungsangeboten.
Relativ wenige Männer sind als Pflegekräfte in öffentlichen Pflegeeinrichtungen tätig, und auch die Sorgearbeit für Angehörige im Privaten leisten überwiegend Frauen, als Partnerin, Tochter und Schwiegertochter. Barbara Stiegler, langjährige Leiterin des Arbeitsbereichs Frauen- und Geschlechterforschung der Friedrich-Ebert-Stiftung, hat darauf in Expertisen immer wieder hingewiesen. „Frauen sind mit 70 Prozent nach wie vor Hauptverantwortliche, wenn es zu einem Pflegefall in der Familie kommt“, stellten die Sozialwissenschaftler*innen Katja Knauthe und Christian Deindl 2019 in einem Gutachten für den Sozialverband Deutschland fest. Hochengagierte wie Naumann und Wegberg sind in der häuslichen Pflege aber nicht die Ausnahme. Das Phänomen wird in seiner Größenordnung selbst von Fachleuten unterschätzt. Der Anteil der Männer, die sich in vielfältiger, oft nicht auf den ersten Blick erkennbarer Weise um solche Aufgaben kümmern, liegt höher, als viele vermuten. Die Quote beträgt in Deutschland je nach Berechnungsgrundlage zwischen 21 und 37 Prozent, seit Anfang der 1990er-Jahre hat sie sich fast verdoppelt. Nach Schätzungen, die allerdings stark voneinander abweichen, pflegen rund 1,8 Millionen Männer Angehörige. Fast immer handelt es sich dabei um die langjährige Lebensgefährtin, selten um schwer erkrankte Kinder, Eltern oder Schwiegereltern.
Auch in der Wissenschaft ist das Thema unterbelichtet. Die wenigen, überwiegend von Männern verfassten Studien, die dazu vorliegenden, betonen, dass Männer „aus Liebe und Dankbarkeit“ pflegen, weniger aus Pflichtgefühl. Das gilt besonders, wenn sie sich um ihre Partnerin auf der Basis einer festen Beziehung kümmern. Der Frankfurter Pflegewissenschaftler Manfred Langehennig fasst die zentralen Befunde seines Forschungsprojektes so zusammen: „Männer versuchen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Kompetenzen und Mitteln, für die geliebte Person das Beste herauszuholen“. Dabei verwenden die männlichen Pfleger Bilder und Begriffe, die aus ihren Erfahrungen im Berufsleben stammen – und teilweise geschlechtsspezifische Stereotype bedienen. Viele „Stilelemente aus der Arbeitssphäre“, so Langehennig, lassen sich in diesem Pflegeverhalten identifizieren. So wollten Männer vor allem eine möglichst effektive und perfekte Logistik schaffen. Dafür eignen sie sich nach Langehennigs Forschung „ein weitreichendes Wissen an“, sie notieren ihre Beobachtungen regelmäßig und werten diese systematisch aus.
Nach einer US-amerikanischen Studie von Betty Kramer und Edward Thomson betrachten pflegende Männer ihre Tätigkeit als „Projekt“ oder sogar als „Management-Aufgabe“. Sie betonen das „Funktionieren“ und suchen nach rational-technischen Lösungen. Die Körperübungen von Michael Wegberg zur Linderung der Schmerzen seiner Mutter stehen für einen solchen explizit männlichen Pflegestil. Langehennig zählt weitere Beispiele aus seinen Untersuchungen auf: Ein ehemaliger Mechaniker und Hobbypilot hat einen Kran für seine gelähmte Frau konstruiert und übt mit ihr vom Bettrand aus an einer Art Flugsimulator. Ein Schuster windelt seine Partnerin, indem er sich ihre Beine wie ein Werkstück über die Schultern legt. Die mit solchen Tätigkeiten verbundenen Emotionen werden dabei eher vernachlässigt: Häusliche Pfleger, hat Langehennig festgestellt, sprechen „in ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld kaum über ihre Gefühle“. Hilfreiche Informationen holen sie sich nicht bei Nachbarn, Freundinnen oder Bekannten, sondern online aus Fachforen im Netz.
Soweit sie noch erwerbstätig sind, stoßen Pflegende im beruflichen Alltag auf ganz ähnliche Hindernisse wie Eltern. Flexible Arbeitszeiten beruhten in Unternehmen schon immer auf betrieblichen Erfordernissen, der Zeitsouveränität von Beschäftigten mit privaten Verpflichtungen dienen sie kaum. Vorgesetzte mit althergebrachten Klischees über Geschlechterrollen blockieren oft entsprechende Wünsche. Auch Betriebs- und Personalräte sehen Pflegeprobleme selten als zentrales Thema an. Aus Befragungen ergibt sich jedoch oft, dass Beschäftigte nicht nur „zwischen Kind und Karriere“, sondern auch (und in der gleichen Lebensphase) zwischen ihrem Beruf und der Versorgung von pflegebedürftigen Alten oder anderen erkrankten Angehörigen balancieren müssen.
Engagement nach der Rente
Frauen sind, wenn in Paarbeziehungen die klassische Rollenverteilung praktiziert wird, deutlich stärker von dieser Doppelbelastung betroffen. Das hat massive sozialpolitische Folgen, vor allem für ihre künftigen Rentenansprüche aufgrund langjähriger Teilzeitbeschäftigung. Doch es reicht nicht mehr, wenn sich Arbeitgeber ausschließlich um weibliche Mitarbeiterinnen mit Pflegeaufgaben kümmern. Wie beim Thema Elternschaft gehören hier die Männer mit ins Boot. Deren Engagement beginnt allerdings oft erst nach der Verrentung. Eine Ursache dafür sieht Eckart Hammer, Gerontologe an der Fachhochschule Ludwigsburg, in der „höheren Verbreitung der Alzheimer-Demenz bei Frauen“. In „gemischten Pflegearrangements“ würden häufig mehrere Helfende eingebunden und verstärkt professionelle Dienste in Anspruch genommen. Zudem entscheiden sich Männer nach Hammers Beobachtung früher für eine außerhäusliche Unterbringung im Heim. In der Debatte um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie steht Pflege meist im Schatten des Themas Elternschaft. Die Geburt von Kindern ist ein positives Ereignis, mit dessen wohlwollender Begleitung sich Politik wie Unternehmen schmücken können. Gebrechliche Alte eignen sich dagegen kaum für Hochglanzbroschüren. Mit ihnen geht es nicht aufwärts, sondern abwärts. Trauer, Leid und vor allem Tod sind Tabuthemen. Die Sorgearbeit mit Schwerkranken kann deprimierend sein, sie ist kaum planbar und zieht sich oft lange hin. Die Zeiträume schwanken zwischen wenigen Wochen und mehreren Jahrzehnten, im Durchschnitt sind es acht Jahre.
Wie können vor diesem Hintergrund pflegende Männer unterstützt werden? In einer (allerdings schon über zehn Jahre zurückliegenden) Studie der großen christlichen Kirchen erklärten sich immerhin zwei Drittel der männlichen Befragten bereit, ihre Arbeitszeit zu reduzieren, damit sie sich um Angehörige kümmern können. Jeder siebte Mann würde nach diesen Angaben seine Stelle befristet sogar ganz aufgeben. 27 Prozent der Männer (Frauen in der Vergleichsgruppe nur 13 Prozent) verweigerten grundsätzlich die Pflege von Familienmitgliedern. Als Haupthindernis nannten sie die Sorge um das gemeinsame Haushaltseinkommen.
Die Hertie-Stiftung schlägt in einer Expertise daher eine „geschlechtsspezifische Kommunikationspolitik“ vor: Sie regt an, Männer nicht nur emotional anzusprechen. Moralische Argumente nützen wenig, glaubt auch Langehennig: „Appelle an den Familiensinn der Männer sind letztlich auf Sand gebaut, wenn sie nicht die materiellen Grundlagen berücksichtigen.“ Die Ursache für den hohen Frauenanteil in der häuslichen Pflege, so der Forscher, sei die „krasse Ungleichheit“ zwischen den Geschlechtern „in ihrer Beschäftigungskarriere und in ihrem Lohnniveau“: Fast die Hälfte der (nach wie vor überwiegend weiblichen) Pflegenden, nämlich 44 Prozent, verfügen über ein Monatseinkommen von unter 1.000 Euro.
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