Reißerisch kamen diese Schlagzeilen daher: Die Zahl der Kriegsdienstverweigerer hat sich verfünffacht! So meldeten es Nachrichtenportale kurz nach dem Jahreswechsel. Doch hinter den Überschriften verbirgt sich ein Anstieg auf niedrigstem Niveau, wie ein Blick auf die Zahlen zeigt. 201 deutsche Männer hatten 2021 verweigert. 2022 waren es dann, vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges, 951. Klingt das nicht lächerlich wenig?
Der Grund für diese geringe Zahl ist die Berechnungsmethode. Denn die amtliche Statistik berücksichtigt nur noch Angehörige der Bundeswehr sowie Reservisten. Seit der Aussetzung der Wehrpflicht zum 1. Juli 2011 zählt sie ausschließlich verweigernde Berufssoldaten, die sich freiwillig zur Armee gemeldet haben. Millionen and
lionen andere junge Männer, die seit 2011 keine Musterung mehr absolvieren müssen, werden gar nicht erst erfasst.Dabei war es für fast zwei Generationen ein fester Bestandteil der Biografie von jungen Männern: Bei den zwischen Ende der 1930er bis Anfang der 1990er Jahre Geborenen flatterte kurz vor dem 18. Geburtstag ein behördliches Schreiben von der Obrigkeit ins Elternhaus. Darin stand der Satz: „Sie haben sich zur Tauglichkeitsprüfung im Kreiswehrersatzamt einzufinden.“ Wer es nicht schaffte, mithilfe ärztlicher Atteste ausgemustert zu werden, stand vor einer schwierigen persönlichen Entscheidung: Gehe ich nun zum Bund? Oder verweigere ich, mache stattdessen Zivildienst?„Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden“, steht in Artikel 4 Absatz 3 des Grundgesetzes. Dessen Väter und Mütter garantierten die Möglichkeit zur Verweigerung angesichts der damals noch sehr präsenten Erfahrungen im Nationalsozialismus. Die gängige Parole „Nie wieder Krieg!“ brachte die pazifistische Stimmung der Bevölkerung auf den Punkt. Nie wieder sollten junge Männer zwangsweise zum Soldatentum verpflichtet, nie wieder Deserteure als „Vaterlandsverrräter“ hingerichtet werden können.Der Ernstfall ändert allesSchneller als erwartet setzte Mitte der 1950er Jahre die Remilitarisierung der Bundesrepublik (und auch der DDR) ein. Mit der Gründung der Bundeswehr 1955 war die Wehrpflicht wieder da, die Nationale Volksarmee führte sie nach dem Mauerbau ein. Erneut wurde alle jungen Männer „gemustert“, das in Westdeutschland verankerte Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung aber ließ sich nicht einfach abschaffen. Um die Zahl der Abweichler niedrig zu halten, setzte man, um im Militärjargon zu bleiben, auf Abschreckung.Der „Ersatzdienst“ dauerte länger als der Militärdienst, vor allem aber wurde ein Prüfungsverfahren zur Erforschung der „Gewissensgründe“ eingeführt. Verunsicherte junge Männer saßen dort einschüchternden Ermittlern gegenüber. Meist wurden diese von staatlichen Behörden abgestellt. Und so mancher Regierungsrat a. D. machte nicht den Eindruck, er nähme das Grundgesetz besonders ernst. „Stellen Sie sich vor, Sie laufen durch einen Park, ein Russe kommt vorbei und will Ihre Freundin vergewaltigen. Was machen Sie dann?“, lautete die legendäre Fangfrage. Von der Nazizeit geprägte Amtsträger wollten angebliche Drückeberger überführen, unterstellten ihnen, ihr Gewissen nur vorzuschieben.Placeholder infobox-1Entsprechend gering war anfangs die Zahl der anerkannten Anträge. Zwei Jahrzehnte lang blieb sie stets unter 5.000 pro Jahrgang. Kriegsdienstverweigerung wurde gesellschaftlich weitgehend missbilligt, galt als fragwürdige Abweichung von der Norm. Selbst während der Studentenproteste 1968 wollten nur knapp 12.000 Männer nicht zur Bundeswehr. Ab Mitte der 1970er Jahre aber schnellten die Zahlen plötzlich auf bis zu 70.000 pro Jahr hoch. 1983 wurde die umstrittene Gewissensprüfung abgeschafft, verweigern konnte man nun auch per Post. Damit begann die Zeit, in der ganze Abiturklassen nahezu geschlossen verweigerten.1991, im Jahr des Golfkriegs, wählten 151.212 junge Männer lieber den Zivildienst – ein Spitzenwert! Von 2002 bis zur Aussetzung der Wehrpflicht registrierten die Behörden 1.179.691 Anträge, im Durchschnitt also rund 120.000 Verweigerer pro Jahr, bei schon erheblich kleineren Alterskohorten. Kriegsdienst und der inzwischen in der Öffentlichkeit längst positiv bewertete Zivildienst hielten sich nahezu die Waage. Der Anteil der Verweigerer wuchs mit leichten Schwankungen, 2001 entschieden sich 49 Prozent der tauglich Gemusterten gegen das Militär. Sich gegen die Bundeswehr festzulegen, ist kein gesellschaftlicher Makel mehr. Doch seit dem Ukraine-Krieg dreht sich die öffentliche Meinung. Gilt bald wieder die Wehrpflicht?Zusammengerechnet leben in Deutschland mehrere Millionen anerkannte Kriegsdienstverweigerer. Zu ihnen gehören auch führende Politiker wie „Zeitenwende“-Kanzler Olaf Scholz (SPD) oder Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). Für die junge Generation aber fehlt jede Statistik. Denn formal hat diese gar nicht die Option zu verweigern, weil sie nicht mehr gemustert wird. Das könnte sich jedoch schnell ändern. Denn die Wehrpflicht ist nur ausgesetzt, sie steht weiterhin im Grundgesetz. Der Bundestag hat die Möglichkeit, den Zwangsdienst mit Zweidrittelmehrheit jederzeit wieder einzuführen.Nur wenigen jungen Männern dürfte bewusst sein, welches Risiko das für sie bedeutet. Der russische Angriffskrieg droht sich in die Länge zu ziehen, und er eskaliert, befeuert nicht nur von einer Seite. Auf leichte folgen schwere Abwehrwaffen, auf den Marder-Panzer der Leopard. Schon fordert die Ukraine Kriegsschiffe und Kampfbomber. Im Worst-Case-Szenario interveniert die NATO unter Einschluss der Bundeswehr. Erst mit Berufssoldaten, und wenn das nicht reicht, wird zwangsmobilisiert, die Wehrpflicht wieder eingesetzt.Der Vorschlag von Bundespräsident Franz-Walter Steinmeier, ein „soziales Pflichtjahr“ einzuführen, klingt harmlos und mag gut gemeint sein. Doch es geht keineswegs nur um die Förderung zivilgesellschaftlichen Engagements, wie Sonntagsreden suggerieren, sondern um die grundsätzliche Verfügbarkeit über junge Menschen. Drastisch ausgedrückt: darum, diese in einen Krieg schicken zu können.So könnte sich irgendwann rächen, dass Jugendliche im Alter von 18 Jahren keine Haltung zum Dienst an der Waffe mehr entwickeln müssen. Der Status aller deutschen Männer, die 1993 oder später geboren wurden, ist völlig ungeklärt. In dieser Generation dominiert Ahnungs- und Sorglosigkeit. Selbst wenn viele (was bei gar nicht so wenigen der Fall sein dürfte) im Grundsatz pazifistisch orientiert sind: Offiziell anerkannte Kriegsdienstverweigerer sind sie eben nicht. Zudem kann das Grundgesetz geändert werden, das Recht auf Verweigerung ist nicht für die Ewigkeit gesichert. Ein Staat, der den „Ernstfall“ ausruft, in dem aber die Hälfte der jungen Männer den Militärdienst ablehnt, hat ein massives Mobilisierungsproblem.Damit das sichtbar und durch unzulängliche Berechnungsmethoden nicht kaschiert wird, braucht es eine politische Kampagne. Etwa einen digital mobilisierenden Aufruf an alle unter 30 Jahren: Verweigert vorsorglich den Kriegsdienst! Macht gemeinsam deutlich, wie stark die antimilitaristische Grundstimmung in Deutschland nach wie vor ist – auch wenn die Politik Waffen und Wehrhaftigkeit predigt.