Mit dem neuen „Selbstbestimmungsgesetz“ will die Ampelkoalition die Rechte von Transpersonen verbessern (der Freitag 26/2022). Dazu beigetragen haben die Queer-Debatten zur Vielfalt sexueller Orientierungen in den vergangenen Jahrzehnten. Vorweggenommen hat solche Denkansätze früh der Arzt Magnus Hirschfeld. Schon vor dem Ersten Weltkrieg, noch im Deutschen Kaiserreich, entwickelte er seine „Theorie der sexuellen Zwischenstufen“. Nach der Etablierung der Weimarer Republik gründete er 1919 in Berlin das Institut für Sexualwissenschaft.
Rainer Herrn erzählt die Geschichte dieser wegweisenden Einrichtung. Der Autor arbeitet als Medizinhistoriker mit den Schwerpunkten Psychiatrie sowie geschlechtliche und sexuelle Minderheiten an der Charité
an der Charité. Zu der aktuellen Veröffentlichung inspirierte ihn (neben seiner homosexuellen Orientierung) vor allem seine Tätigkeit für die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, in der er sich bereits seit drei Jahrzehnten engagiert. Das Buch ist keine kompliziert geschriebene wissenschaftliche Qualifikationsarbeit, sondern auch für Laien gut lesbar. Dennoch bestehen fast 200 (!) der insgesamt 681 Seiten aus Anmerkungen und Literaturhinweisen.Als roten Faden nutzt Herrn die Biografie des 1868 geborenen „Sanitätsrats“ Hirschfeld. Der zunächst etwas unverständlich klingende Buchtitel Der Liebe und dem Leid bezieht sich auf die lateinische Inschrift „amori et dolori sacrum“, die an der Hausfassade in der Nähe des Tiergartens in Berlin angebracht war. Eine umfangreiche Bibliothek, vielfältige Sammlungen, Forschungsprojekte und Therapie-Angebote lockten Patienten und Besucherinnen aus der ganzen Welt an. Menschen aller Schichten konnten sich vor Ort über Empfängnisverhütung oder den Schutz vor Geschlechtskrankheiten informieren.Es gab keine öffentlichen Zuschüsse, die Ressourcen stammten vorwiegend aus dem Privatvermögen des Gründers. Hirschfeld hielt lukrative Vorträge im In- und Ausland, zudem verfasste er immer wieder forensische Gutachten für Strafprozesse. Er verstand das Institut als Informations- und Beratungsstelle, als sicheren Ort für von einem rigiden Strafrecht bedrohte Homo- und Transsexuelle und nicht zuletzt als politisches Zentrum. „Aktionsausschüsse“ und Komitees starteten Kampagnen für die Abschaffung des Paragrafen 175, der sexuelle Kontakte zwischen Männern unter Strafe stellte.Die Erfolge ließen auf sich warten. Von den Nationalsozialisten wurde die gleichgeschlechtliche Lebensweise diskriminierende Gesetzgebung sogar noch verschärft. Ohne großen Widerspruch in der öffentlichen Debatte übernahm die junge Bundesrepublik den äußerst rigiden „Schwulenparagrafen“ aus der NS-Zeit; die DDR führte die Weimarer Regelung wieder ein. Erst 1969 (in Ostdeutschland 1968) wurde der „175er“ abgeschafft. Die im Vergleich zu Heterosexuellen höhere Altersgrenze bei homosexueller „Unzucht“ galt in Westdeutschland allerdings noch bis 1994.Gegen die PsychoanalyseMagnus Hirschfeld wollte beweisen, dass Homosexualität angeboren sei, also genetische Vordispositionen, die gleichgeschlechtliche Orientierung festlegten. Mit einer eher biologistischen Argumentation wandte er sich gegen die von ihm abgelehnte Psychoanalyse. Rainer Herrns Buch dokumentiert in diesem Zusammenhang irritierende Details: So gab es im Institut anfangs Versuche, Homosexuelle zu kastrieren oder ihre Orientierung durch Operationen zu verändern. Das erinnert an spätere, noch menschenverachtendere medizinische Experimente der Nazis – und ist nur im zeitgenössischen Kontext nachvollziehbar. Denn eugenische Erklärungen und Methoden waren damals auch in linken und liberalen Kreisen breit akzeptiert.Hirschfeld, der selbst homosexuell war und lebte, dies aber nie öffentlich thematisierte, wurde vor allem von der Sozialdemokratie politisch unterstützt. Seine Gegner standen im rechtsnationalen Lager oder waren Mitglieder der katholischen, besonders sexualfeindlichen Zentrumspartei. Er galt als „jüdischer“ Propagandist und wurde zum stimmigen Feindbild der stärker werdenden Nazis. Nach der Machtübernahme drangen Sturmtrupps in die Räume ein, das Institut wurde sofort geschlossen, die wertvolle Bibliothek ging bei der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 in Flammen auf. Viele Mitarbeiter flohen ins Ausland, einige wurden verfolgt und später in Konzentrationslagern ermordet. Hirschfeld selbst starb 1935 im französischen Exil.Rainer Herrns Buch macht deutlich, wie wegweisend die deutsche Sexualwissenschaft der 1920er Jahre war. Doch sie brauchte lange, um sich von der Zerschlagung der innovativen Forschungseinrichtung zu erholen. Bis heute ist das Fachgebiet nur an wenigen Hochschulen wie dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf in die medizinischen Fakultäten integriert. Magnus Hirschfeld hatte über seinen Tod hinaus aber großen Einfluss auf internationale Fachkreise. An seinen empirischen Vorarbeiten orientierte sich zum Beispiel der durch die „Kinsey-Reports“ in den 1950er und 1960er Jahren bekannt gewordene US-amerikanische Sexualforscher Alfred Kinsey. Hirschfelds Namen trägt heute eine Promenade am Ufer der Spree, in der Nähe des im Krieg vollständig zerstörten Institutsgebäudes.Placeholder infobox-1