Historikerin Sandra Kostner: „Moskau aus den Armen Pekings lösen“
Interview Die Historikerin Sandra Kostner zum Krieg in der Ukraine – und wie man ihn beenden kann. Warum es außerdem leicht ist, den richtigen Zeitpunkt für Gespräche zu verpassen und wieso sie vor einem Konflikt mit China warnt. Ein Gespräch
Vor Russlands Angriff war es eine Scheune: Ukrainischer Soldat in der Nähe von Saporischschja
Foto: Celestino Arce/Nurphoto/dpa
Was eigentlich gilt in der Debatte zum russischen Krieg in der benachbarten Ukraine noch als eine legitime Position – und was nicht? Ist es ein Problem, wenn das, was man vielleicht richtig findet, an den falschen Orten geäußert wird? Nach der Veröffentlichung ihres Sammelbandes Ukrainekrieg. Warum wir eine eue Entspannungspolitik brauchen sehen sich der Bremer Politologe Stefan Luft und die Historikerin Sandra Kostner von der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd einem scharfen Gegenwind ausgesetzt. Über diese Verengung des Debatteraums in Deutschland sowie natürlich über die Logiken des eigentlichen Konflikts hat Thomas Gesterkamp für den Freitag mit Sandra Kostner gesprochen.
der Freitag: Frau Kostner, mit Ihrem Kollegen Stefan
: Frau Kostner, mit Ihrem Kollegen Stefan Luft haben Sie gerade einen Band zum Ukrainekrieg herausgegeben. Der Untertitel lautet „Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht“. Warum ist aus Ihrer Sicht die Lage angespannt?Sandra Kostner: Die NATO wie auch Russland haben sich in den letzten zwanzig Jahren in eine Konfrontationslogik hineinmanövriert. Um einen Ausweg zu finden, müsste eine Seite den ersten Schritt tun und sich offen für die Interessen der anderen zeigen.Das klingt im Moment aber reichlich utopisch.Tatsächlich sind die Fronten inzwischen zu verhärtet. Leider fehlt auch auf westlicher Seite der Willen zu analysieren, wie die eigene Politik zum Konflikt beigetragen hat. Wenn man die russische Seite nur als Inkarnation des Bösen sieht, der mit aller Macht Einhalt zu gebieten ist, dann verschließt man die Tür für diplomatische Lösungen. Das ist nichts anderes als ein Rückfall in das gewohnte alte Muster der Blockkonfrontation: Gut gegen Böse.Sie schreiben über „verspielte historische Chancen“. Was wurde denn konkret verspielt?Es wurde die Chance verspielt, eine stabile Friedensordnung in Europa aufzubauen, die Russland einbezieht. In der unipolaren Phase ab Anfang der neunziger Jahre, als die Vereinigten Staaten zur unangefochtenen Weltmacht wurden, haben wir besonders stark US-Interessen zu unseren gemacht. Fatalerweise wurden diese Interessen maßgeblich von Neokonservativen in Washington beeinflusst, die eine konfrontative Hegemonialdoktrin vertreten. Die europäischen NATO-Staaten haben sich dem „The-winner-takes-it-all“-Kurs angeschlossen und gegenüber Russland eine Politik unterstützt, die massiv gegen dessen Interessen in den Bereichen Sicherheit und Geopolitik verstieß. Das Vertrauen, das Michail Gorbatschow dem Westen bezüglich der NATO-Osterweiterung entgegen gebracht hatte, wurde mit Füßen getreten.Sie plädieren für einen eigenständigen europäischen Weg in der Weltpolitik. Wie sollte der aussehen? Was meinen Sie nicht damit?Ich plädiere nicht dafür, sich von den USA abzuwenden. Aber wir müssen lernen, welche Politik uns nützt und welche schadet. Es gibt dabei sehr weit auseinander gehende Interessen innerhalb der EU, aufgrund der unterschiedlichen historischen Erfahrungen der Mitgliedstaaten. Wir sollten den Ukrainekrieg zum Anlass nehmen zu definieren, an welchen Punkten wir Gemeinsamkeiten haben und wo amerikanische Interessen den europäischen entgegenstehen. Entsprechend sollte man kooperieren oder getrennte Wege gehen.Sehen Sie denn irgendwo Ansätze in eine solche Richtung?Momentan schließen sich die westlichen Reihen eher im Dienst der neokonservativen Agenda. Das ist auch deshaln hochproblematisch, weil sich Europa damit immer weiter in den heraufziehenden Großkonflikt der USA mit China hineinziehen lässt. Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron hat das erkannt. Wie deutsche Medien und Politiker auf seine entsprechende Äußerung reagiert haben, verdeutlicht, wie weit wir im Moment davon entfernt sind, eine unabhängige Politik zu betreiben.Sie fordern „mehr Diplomatie“. Das populäre Gegenargument lautet: Das sei jetzt, wo die Waffen sprechen, ja wohl ganz klar der falsche Zeitpunkt.Es ist nie der falsche Zeitpunkt für Diplomatie. Dies ist eine reine Schutzbehauptung, um zu rechtfertigen, dass man nicht willens ist zu verhandeln. Denn das Verhandeln erfordert es, die Interessen der anderen Seite zur Kenntnis zu nehmen und zumindest bis zu einem gewissen Grad Zugeständnisse zu machen.Aber so – sagen nicht wenige – würde man Putins Kriegspolitik auch noch belohnen. Ist da nicht etwas dran?Das ist aber unumgehbar, wenn die andere Seite nicht vernichtend geschlagen werden kann, was bei Russland als größter Atommacht der Fall ist. Man kann von westlicher Seite aus nur die ukrainische Ausgangsposition für Verhandlungen militärisch beeinflussen. Die Frage ist jedoch: um welchen humanitären Preis? Man verpasst leicht den geeigneten Zeitpunkt: Ist die Ukraine auf dem Schlachtfeld erfolgreich, kämpft sie weiter, um ihre Position noch mehr zu verbessern. Kommt es zu Rückschlägen, will man nicht verhandeln, weil die Lage schlechter geworden ist. Dieser Teufelskreis führt dazu, dass der Krieg nicht aufhört.In der Wissenschaft, vor allem in der sogenannten Osteuropaforschung, stoßen Ihre Positionen auf eine vehemente Ablehnung. Warum kommt von dort so wenig Kritik an der westlichen Politik?Die negative politische Entwicklung in Russland ist ja unbestritten. Doch das neokonservative Framing nutzt das, um eigene geopolitischen Ziele zu rechtfertigen und Moskaus Interessen jegliche Legitimität abzusprechen. Dennoch verwundert diese Einhelligkeit. In anderen Fragen oder Feldern gibt es erheblich mehr Pluralität.Wer in der Osteuropaforschung tätig ist, überlegt sich genau, wie man sich positioniert und ob es nicht klüger ist, diesem Framing zu folgen. Denn es könnte sonst schwierig werden mit Drittmitteln, Publikationsmöglichkeiten und Tagungseinladungen – gerade was die Kontakte zu osteuropäischen Ländern angeht, die aus guten Gründen Russland mit Argwohn und Ressentiments begegnen.In den bundesdeutschen Medien dominiert die klare Parteinahme für die Ukraine. Andersdenkende müssen damit rechnen, als „Putintrolle“ oder Lumpen- und Unterwerfungspazifisten beschimpft zu werden. Was hat den Debattenraum so verengt?Viele wollen leider nicht mehr diskutieren, sondern ihre Perspektive durchsetzen. Das Mittel der Wahl ist dabei die Diffamierung. Mit der Unterteilung in legitime und illegitime Argumente entsteht ein hochgradig asymmetrischer Debattenraum, in dem eine Seite für ihre Äußerungen belohnt und die andere stigmatisiert und sozial bestraft wird.Sie ziehen Parallelen zum gesellschaftlichen Umgang mit dem Corona-Virus. Kann man das so einfach vergleichen?Was die Mechanismen der Diskursverschließung betrifft, ja. In beiden Fällen sollte und soll eine Position als alternativlos durchgesetzt werden, anstatt möglichst viele Perspektiven einzubinden. Es birgt eine gewisse Ironie, dass die Verteidigung der westlichen Wertegemeinschaft ins Feld geführt wird, um die Konfrontationspolitik gegenüber Russland und China zu begründen. Denn gleichzeitig untergräbt man eines der wichtigsten Wesensmerkmale des liberal-demokratischen Systems: die Fähigkeit zum offenen Diskurs und damit auch zur Korrektur von Fehlern. Denn Selbstkritik ghilt nur in eine Richtung als legitim. Demnach war Deutschland den Russen gegenüber in der Vergangeheit zu nachgiebig und auch viel zu naiv.Sie lassen im Buch zwei ehemalige Politiker in Interviews zu Wort kommen: Den früheren Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi (SPD) und den einstigen CDU-Verteidigungsexperten Willy Wimmer. Letzterer kooperiert inzwischen mit rechtspopulistischen Publikationen. Ist das kein Problem für Sie?Für uns ist entscheidend, was jemand zu sagen hat und nicht, wo er seine Positionen womöglich auch schon einmal vorgetragen hat. Ansonsten trägt man dazu bei, dass die Diskurswaffe Kontaktschuld noch mehr an Wirkmächtigkeit gewinnt. Bringt jemand politisch inopportune Perspektiven ein, findet er kaum Zugänge in den Leitmedien. Wer dann nicht schweigen will, weil ihm wichtig ist was er zu sagen hat, weicht mitunter auch auf problematische Kanäle aus.Die Kanäle, die Willy Wimmer nutzt – wie etwa das AfD-nahe Portal „freiewelt.org“ oder auch seine Kontakte zu dem Verschwörungstheoretiker Ken Jebsen – sind nun aber tatsächlich hochgradig fragwürdig.Vor dem Hintergrund seiner Tätigkeit in der OSZE ist Wimmer einfach sehr enttäuscht von der Haltung der US-Amerikaner. Ich würde sicher anders formulieren, aber man sollte solche Positionen nicht von vorne herein ausgrenzen.Skeptisch eingestellt gegenüber der derzeitigen Ukraie-Politik sind gerade ältere Menschen, die den Zweiten Weltkrieg noch erlebt haben oder zumindest aus den Berichten ihrer Eltern kennen. Wie sehr ist die Wahrnehmung des Konfliktes auch eine Generationenfrage?Die Jüngeren sind einfach in einer Zeit aufgewachsen, in der es keine Bedrohung durch geopolitisch orientierte Staaten gab und Frieden in Europa als selbstverständlich galt. Zudem, nicht unwichtig, wurde die Wehrpflicht im Jahr 2011 ausgesetzt, seither müssen sich junge Männer nicht mehr mit der Frage Kriegsdienst oder Ersatzdienst beschäftigen.Ein sachlicher Ton prägt Ihr Buch, es ist keine Streitschrift. Wie kann eine offene Diskussion entstehen zwischen den weit auseinander liegenden Positionen?Versachlichung ist die Basis für einen multiperspektivischen Diskurs. Abgesehen von knallharten Machtinteressen verhindert auch eine überbordende, moralisch geleitete Emotionalität die dialogorientierte Auseinandersetzung. Nur wer Distanz zum Gegenstand hat, kann sich ernsthaft auf die Argumente von Andersdenkenden einlassen. Wir sollten uns mit intellektueller Neugier begegnen, abweichenden Meinungen zuhören, sie mit Gelassenheit analysieren, nicht in Rechthaberei verfallen und dem Gegenüber keine unlauteren Motive unterstellen.Sie sind Historikerin und keine Sicherheitsexpertin, trotzdem die Frage: Wie kann der Krieg nach Ihrer Meinung beendet werden?Schon im März 2022 wurden unter türkischer und israelischer Vermittlung erhebliche Verhandlungsfortschritte erzielt. Leider haben sich die darin gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt. Jetzt braucht es eine internationale Allianz aus Vermittlern, die Druck auf beide Seiten ausüben. Dabei wird man akzeptieren müssen, dass auch Putin bestimmte strategische Ziele erreicht, an erster Stelle die Bündnis-Neutralität der Ukraine. Für die Ukraine hingegen sind Sicherheitsgarantien zentral. Damit auch Russland diese akzeptieren kann, dürfen sie keine faktische NATO-Mitgliedschaft begründen.Für die Ukraine geht es doch erstmal darum, dass Russland erhebliche Gebiete besetzt hält.Die Frage der ostukrainischen Gebiete ist wirklich schwierig, weil es dort auch um den Umgang Kiews mit der ethnisch-sprachlich russischen Bevölkerung geht. Eine Option, um Russland zur Aufgabe der Territorien zu bewegen, wäre das Ende der Sanktionen und das Angebot attraktiver Wirtschaftsbeziehungen. Signale der Entspannung wären auch strategisch klug, um Russland wieder aus den Armen Chinas zu lösen. In jedem Fall sollte man sofort mit Verhandlungen beginnen.Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1