Endlich kommt der Arzt

Kino Im ungewöhnlichen Debüt von Linus de Paoli sieht Berlin aus wie New York Noir: „Dr. Ketel – Der Schatten von Neukölln“
Ausgabe 34/2013
Endlich kommt der Arzt

Foto: Deutsche Film- und Fernsehakademie

Und dann, bang, unter dir die Stadt: Berlin. Neukölln. Im Panorama und dazu brachial was auf die Ohren. Nicht in der Gegenwart, sondern, besagt eine Einblendung, in naher Zukunft, in der das Gesundheitssystem vor die Hunde gegangen sein wird. Ein Moloch in Schwarz-Weiß und nicht das Café-Latte-Partyviertel, das dort täglich quadratmeterweise wächst. Der Soundtrack lässt es dazu krachen: Hart gespielte Drums, dräuende Gitarren-Drones. Dr. Ketel – Der Schatten von Neukölln beginnt so metallisch, wie ein Mund voller Blut schmeckt.

Hier der Verfall, eine Welt, die nur aus abgebröseltem Putz und lecken Wasserleitungen besteht – dort die Architektur der klaren Linie, hinter der sich der Wohlstand verschanzt. Zwischendrin: Dr. Ketel (Ketel Weber), der nachts Apotheken ausräumt, um tagsüber die Leute in seinem Viertel pro bono zu versorgen. Schwere Fälle legt er vor dem Krankenhaus ab. Ein barmherziger Samariter, ein Robin Hood der Medizin, von dem keiner weiß, in was für einem Loch, dem Loch der Löcher, er lebt.

In der Klinik arbeitet Dr. Ketel nicht, dafür hegt er andere Geheimnisse: ein Superheld, getarnt durch eine andere Identität. An seine Fersen heftet sich, nicht so sehr aus polizeilichen Gründen, die Grande Dame des britischen Independentkinos, Amanda Plummer, mit ihrer toll papierenen Amanda-Plummer-Stimme als eingeflogene Kriminalistin mit Hang zu fernöstlichen Philosophien, die Kurse für junge Polizistinnen gibt.

Toll ist, wie bildersüchtig dieser Film ist, wie er sich an Bildern aus der Filmgeschichte infiziert. Von der Filmkunst weht das Schwarz-Weiß her, manch kaputtes Haus, manch abgeranzte Bude würde man eher in der Seitengasse eines New Yorker Film Noir der vierziger Jahre vermuten. Plötzlich vibriert diese Stadt im Bild, wo ihr sonst oft Postkartenbilder abgeluchst werden.

Kurzzeitig schwelgt Dr. Ketel sogar unter wuchtig harten Gitarrenklängen in Bildern eines manischen Psycho-Horrorfilms aus dem Indie-Sektor. Dabei ist der Film an der DFFB entstanden, der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin, deren Filmen eine gewisse Sprödigkeit nachgesagt wird. Vollkommen frei davon ist der nicht gänzlich stimmige Dr. Ketel nicht. Insbesondere zum Ende hin wird sich der Film in Dialogen über Schicksal und Zufälligkeit ein wenig fremd. Doch ist alleine seine akustische Strenge – von der mal schön rohen, dann wieder kristallin fragilen Bildästhetik ganz abgesehen – eine eindrucksvolle Demonstration dessen, was in Filmen aus Deutschland möglich sein kann, wenn einmal das Fernsehen seine Finger nicht im Spiel hat. Ins Sendeschema etwa des ZDF dürfte Dr. Ketel – Der Schatten von Neukölln schwerlich passen. Unter den herrschenden Bedingungen deutscher Filmproduktion ist das ein Vorzug.

Im Kern schlummert eine sympathisch naiv und ohne Falsch vorgetragene Message: Kein Brotjob ist es wert, dass man darüber sein Leben und seine Befähigungen zuschanden kommen lässt. Damit dürfte das spürbar heißhungrige Filmemacher-Duo Anna (Buch und Produktion) und Linus de Paoli (Buch und Regie) auch das eigene Credo beschwören. Das Ende legt, passend zum Superheldenfilm, eine Fortsetzung nahe. Wie sich der hagere Ketel in den Moloch Neukölln schleppt, macht klar: Der Mann ist noch nicht auserzählt; von dieser Stadt, dreckig von unten gefilmt, ganz zu schweigen.

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Geschrieben von

Thomas Groh

lebt in Berlin und schreibt über Filme.

Thomas Groh

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