Ort der Entgleisung und des rustikalen Begehrens, Irrsinn, Spektakel: Das Oktoberfest ist ein filmischer Topos. Seit seinen frühesten Tagen hat das Kino das Treiben auf der Wiesn in Wochenschauen, Dokumentar-, Essay- und Reklamefilmen ganz unterschiedlich perspektiviert, wie eine mit Werken aus den Jahren 1910 bis 1980 reich gefüllte Doppel-DVD der verdienstreichen Edition Filmmuseum nun belegt. Das Spektrum reicht vom kleinbürgerlichen Biedersinn – „Schaut her, die Parade!“ – über Karl Valentins Körperakrobatik bis zu Percy Adlons auch wegen des lakonischen Kommentars hypnotisch faszinierender Sozialreportage Der echte Liliom (1978) über die wirsch nuschelnden Budenarbeiter.
Gut versteckt findet sich auch Herbert Achternbuschs lang vermisster Bierkampf (1977). Darin stürzt sich der große, nach seiner Blasphemiekomödie Das Gespenst (1982) von der Obrigkeit systematisch aus dem Betrieb gekantete Anarchist des bayrischen Films mit Guerillamethoden ins Oktoberfest. Dabei macht er bewusst, welches Verhältnis zur Polizei das ordnungsliebende Land des ewigen Fernsehkrimis in seinen Filmen unterhält: Ein Polizist als Depp einer Hanswurstiade ist eben wirklich nur bei Achternbusch vorstellbar, der hier selbst nach einem Ehekrach in eine gestohlene Polizeiuniform schlüpft, um sich auf der Wiesn in absurden Dialogen zu verzetteln und – zusehends alkoholisiert – seine Autorität bis in die infantile Provokation hinein auszukosten.
Eine närrische Figur auf der Suche nach einem „leiblichen Weib“ (oder weiblichen Leib), ein jämmerlicher Mann und Untertan auf der Suche nach etwas phallischer Macht, die ihm der über dem Schoß getragene Colt verleiht. Ringsum: der Irrwitz, zu dem sich bayerische Bierseligkeit mit bayrischer Dickköpfigkeit vermengt. Die absurde Variante des Kasperletheaters mit einem bald stockblauen Polizisten, die mit kleinsten Verschiebungen und angenehm holzig-trockener Inszenierung das verkniffene Begehren einer verschrobenen Volksseele freilegt.
Einsamer Höhepunkt der zum Schreien komischen Quasipunkkomödie: Achternbusch auf Autopilot in einem waghalsigen Jackass-Stunt avant la lettre, wie er hinkend, springend und wild äugend durchs Bierzelt zieht, Brezeln, Biere, Handtaschen klaut, unter Einsatz des eigenen Lebens die (uneingeweihten) Besoffskis über Weißwurst bis zur Weißglut treibt. Rucki Zucki spielt die Musi im Bierdunst später auf – da weiß man schon nicht mehr, wer hier eigentlich mehr spinnt: Herbert Achternbusch, der amtsanmaßend sämtliche Knochen riskiert, oder doch der vom Bier entfesselte Mob beim Prosit der Gemütlichkeit.
Wenn man das heute sieht – die anarchische gestalterische Freiheit, die der Filmemacher reklamiert, seine Respektlosigkeit und Spontaneität, die Freude daran, Tabus nicht zu brechen, sondern gar nicht erst zur Kenntnis zu nehmen –, wird im Blick auf den Biedersinn des aktuellen Format- und Themenkinos ein Verlust spürbar. Wie so oft, wenn man sich das BRD-Kino der 60er und 70er Jahre anschaut, ergibt sich auch hier der Eindruck einer Flaschenpost aus einer anderen Zeit, und das nicht nur wegen nikotinvergilbter Wirtshäuser. Dass diese Erinnerung ans Andere wieder zugänglich ist, bietet Anlass zur Freude. Möge sie heutige Regisseure zum längst überfälligen Fanmeilenkampf inspirieren, auf dass es der Suppe des nationalen Konsenses an Spucke auch künftig nicht mangelt.
Oktoberfest München 1910 – 1980 Mit Filmen von Herbert Achternbusch, Karl Valentin, Percy Adlon und anderen, Edition Filmmuseum Nr. 89, zwei DVDs
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.