Wenn diesen Sommer eine der dienstältesten Rockbands der Welt unseren Kontinent erobern will in Form von 17 Stadienkonzerten, verteilt auf acht Länder, mag man sich fragen, wo der Rock´n´Roll dabei geblieben ist. Vielleicht hat er sich auf eine Palme zurückgezogen, und Keith Richards hatte danach suchen wollen. Seine Kletterpartie im Frühjahr ging schief und brachte den Tourneeplan schwer durcheinander. Nach seinem Absturz musste sich der Meister sogar bei seinen Fans entschuldigen ... Dass es mal so kommen würde, war nicht absehbar, als die Stones einst im "Marquee"-Club am 12.7. 1962 vor ein paar hundert Jugendlichen das Konzertleben anfingen, als Ersatzgruppe für Alexis Korner, der dank eines BBC-Auftrittes Besseres zu tun hatte.
Die Zeiten haben sich gewandelt, längst müssen Stones-Konzerte generalsstabsmäßig organisiert werden. Dass sie dabei nicht an musikalischer Frische, an Lebendigkeit und an Witz verlieren, das müssen die Rolling Stones jedes Mal wieder beweisen. Nun vielleicht tatsächlich ein letztes Mal. Charlie Watts sprach es unumwunden aus auf der Pressekonferenz zur Tour. Mick Jagger korrigierte galant, was seit jeher die Band-Politik war: Wir haben immer offen gelassen, wie es weitergeht. Und Mr. Richards sagte es am treffendsten: Würden Sie aus einem fahrenden Bus springen? Der Bus rast zwar noch nicht auf Hochtouren, aber seit dem Eröffnungskonzert am 11. Juli in Mailand, wo sie mit zwei Fußballweltmeistern auf der Bühne standen und As tears go by auf italienisch sangen, kommt er langsam in Fahrt.
Mit einem gestochen klaren Stadionsound und gigantischerer Bühne als je zuvor eröffneten die Rolling Stones am 21. August vergangenen Jahres im Bostoner Fenway-Park ihre Welttournee 2005/2006. Warum Boston, wurde Frontmann Mick Jagger gefragt. Weil es eine Gewinnerstadt ist, antwortete er, und daran messen wir uns. Neu-Englands Metropole floriert wirtschaftlich, was sich wiederum in horrenden Konzertticketpreisen im zwei Mal ausverkauften Stadion niederschlug. Die Stones sind sich im Klaren darüber, dass sie mehrere Generationen zugleich befriedigen müssen, weshalb für die Welttournee fast "nur" Stadien und Arenen gebucht wurden; keine mittleren In-Door-Shows oder gar Club-Konzerte. A bigger Bang ist es eben, ein noch größerer Knall, der sich auch darin manifestiert, dass die privilegiertesten und betuchtesten Fans in Boston mit auf der Bühne sitzen durften, links und rechts des Geschehens in terrassenartig angelegten Boxen. Mick Jagger hatte die Idee gehabt, inspiriert von der Form des Globe-Theaters, in dem Shakespeares Stücke ein paar Jahrhunderte zuvor so volksnah wie möglich gespielt wurden und wo es, im klassischen Sinne, kein Oben und kein Unten und kein Guckkastenprinzip gab. Aber ob die Preise für on stage, die im vierstelligen Bereich lagen (1.200 bis 2.600 Dollar), damals wohl auch so extraordinär waren?
Die Rolling Stones dürfen sich - fast - alles erlauben. Das Gerede von den alten Männern, die es noch einmal wissen wollen, ist von ihnen selbst ad absurdum geführt worden, der wohl einzige Gradmesser für diese Band ist, dem eigenen Anspruch zu genügen. So enthalten die neuen Songs des gleichnamigen Bigger Bang-Albums die ganze Bandbreite der Stones-Tradition, angefangen vom schwarzen Delta-Blues in Back Of My Hand bis zum Rock-Kracher Rough Justice mit Jaggers lasziver und schnippischer Lyrik: "One time you were my little chicken / Now you ´re a little fox / Once I was your rooster / Now I´m one of your cocks". Frei interpretiert heißt dies nichts anderes als: So sieht´s eben aus nach 40 Jahren auf der Rock´n´Roll-Piste. Auch ein politisches Bekenntnis ist dabei. In Sweet Neo Con wird der aufstrebende amerikanische Konservatismus angeprangert - freilich ohne plump Namen und Adresse zu nennen. Und mit Oh No, Not You Again bekennt man sich zur Selbstironie, was ja auch immer ein Markenzeichen der Band war. Ja, wir schon wieder! mag es bedeuten, in etwas strapazierter dialektischer Auslegung.
Den Fans muss man es recht machen, denn sie erweisen nicht nur die Sympathie, sondern bringen auch das Geld. In Boston hatte der harte und treueste Fankreis sein Wiedersehen gefeiert; seither kommt es zu legendären Begegnungen von Fans überall in der Welt. Einer humpelt mittlerweile auf Krücken herbei, und Dirk aus Hattingen - eine authentische Figur - ist bestimmt bei seinem 300. Stones-Konzert angelangt. "Die Japaner", so heißt es, machten die ganze Tour mit, und der Rest der Fans fragt sich, wie das zu finanzieren sei. Durch den Verkauf von Souvenirs, das ist zum Beispiel eine Möglichkeit. Viele hier scheinen - zumindest auf Zeit - ihre Familienbande zerschnitten und ihr Konto geplündert zu haben.
Nach Nord-, Süd- und Mittelamerika, nach Japan, China und Australien und insgesamt 76 Konzerten bekommt nun Europa den Bigger Bang um die Ohren geknallt. Die Band hatte zwischendurch sechs Wochen Pause, danach wollen sie noch einmal nach Nordamerika. Es hat sich durch den zurückliegenden Konzertmarathon eine gewisse Routine eingestellt. Einmal, in Charlotte, North Carolina, musste die Band den Auftritt für zwei Stunden unterbrechen wegen einer Bombendrohung; moderne Zeiten. In Rio de Janeiro, wo wie in alten Woodstock-Tagen ein Gratis-Konzert absolviert wurde, befürchtete man Schlimmes - waren 1,2 Millionen zu bändigen, logisch beherrschbar? Doch das erwartete Chaos blieb aus, und auch aus den Favelas, den Armenvierteln, krochen weder Dunkelmänner noch Terroristen. Die Brasilianer lebten eine Gute-Laune-Welt vor. Dann, in Buenos Aires, das Gegenteil davon: Jugendliche randalierten und fackelten Autos ab wegen der hohen, zu hohen Eintrittspreise. Ein bisschen Waldbühnen-Stimmung wie anno 1967. Ob das die Stones in ihrem "Four Seasens"-Tempel auch so assoziierten?
Den größten Medienrummel löste ihr Auftritt in Shanghai aus. Die Dekadenz in Form der Rockmusik hatte es ins kommunistische Kernland geschafft! Die Rolling Stones wirkten weder "brav" noch "gezähmt", wie mancherorts geschrieben wurde, sondern eher besonders motiviert. Der Ideologie des Großen Vorsitzenden mussten allerdings auch sie sich beugen. Fünf Titel, wegen angeblicher Obszönitäten, fielen der Zensur zum Opfer. Nur: Den Tugendwächtern schlug man dann doch ein Schnäppchen, indem Bitch ins Programm genommen wurde. "Sometimes I´m sexy, more like a stud", sang Mick und bewegte sich entsprechend dazu. Das war nicht weniger anstößig als Brown Sugar. Das Wild Horses-Duett mit dem chinesischen Sänger-Dissidenten Ciu Jian misslang hingegen, da dieser sich als wenig text-sicher erwies. You can´t always get what you want. Fast gab es zuletzt eine wirklich böse Überraschung in Shanghais Grand Stage-Theater. Aus dem Hängeboden der Halle löste sich ein Sandsack und fiel zu Boden, direkt zwischen Ronnie und Keith. Es wirbelte durchaus etwas Staub auf; die beiden Gitarristen schauten sich an wie in einem Bunuel-Film, spielten aber unverdrossen weiter.
Bekommen wir denn, was wir wollen, was wir erwarten? Sicher ist, dass eine Band die Bühne betritt und für zweieinhalb Stunden da oben verweilt, die für ihre Sache glüht, ja, brennt. Da mag der Rock´n´Roll noch so alt geworden sein, und noch so teuer. Die Stadien werden wieder voll sein. Die jüngsten Gerüchte besagen, dass am 18. Dezember dieses Jahres, zu Keith Richards 63. Geburtstag, endgültig Schluss sein soll. Auf Hawaii ist da Sommer, der richtige Ort für ein letztes Konzert, eine anständig wüste Abschlussparty. Die Stones standen immer für das hedonistische Prinzip. Ein Bigger Bang zum Finale, dass die Insel wackelt. Aber no more Rolling Stones? Eigentlich unvorstellbar.
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