Ironisch kommentierte W. E. B. Du Bois 1945 den Gründungsvertrag der Vereinten Nationen: „Wir haben Deutschland zwar besiegt, aber nicht seine Ideen. Wir glauben immer noch an die Vorherrschaft der Weißen, halten die Negroes unter der Knute und erzählen Lügen von Demokratie, wenn wir die imperiale Kontrolle über 750 Millionen Menschen in den Kolonien meinen.“ Der Schwarze Soziologe und Historiker war einer der Vordenker der antikolonialen Bewegung, der die äthiopisch-amerikanische Politologin Adom Getachew in ihrem Buch Die Welt nach den Imperien nachgeht. Ihre wegweisende Studie widmet sich den (hierzulande kaum gelesenen) antikolonialen Aktivist:innen in Afrika und der Karibik, die sich für die Befreiung der ehemaligen Kolonien einsetzten un
insetzten und diese als gleichberechtigte Nationen auf der internationalen Landkarte zu etablieren versuchten. Getachews umfangreiche Darstellung dieser postkolonialen Emanzipation eröffnet die längst überfällige Möglichkeit, die Perspektive von Entkolonialisierten einzunehmen und die politischen Auseinandersetzungen im 20. Jahrhundert durch deren Brille zu lesen. Erst so wird deutlich, dass unsere Welt nicht das Ergebnis postkolonialer Zwangsläufigkeiten ist, sondern ein radikaler und gegen viele Widerstände durchgesetzter Bruch, der eine Neugründung der Weltordnung erforderte.Die in Chicago lehrende Politologin geht in ihrem Erstlingswerk dem Aufstieg und Niedergang der postkolonialen Selbstbestimmung nach. Der Aufstieg umfasst die Phase vom formalen Ende der imperialen Ordnung bis zum Beschluss der UN-Resolution 1514. Die „Erklärung über die Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker“ im Jahr 1960 ist für die Autorin der „Höhepunkt der Neuerfindung der Selbstbestimmung“. Die entkolonialisierten Nationen nutzten erstmals ihre numerische Mehrheit in der Generalversammlung, um das Prinzip der Freiheit von fremder Herrschaft und Einmischung in einem international gültigen Regelwerk zu verankern.Neoliberale MarktlogikenBis dahin war es ein beschwerlicher Weg, auf dem es galt, die Schwarze Bevölkerung auf beiden Seiten des Atlantiks aus der Sklaverei zu befreien und die rassistische Grundierung der internationalen Beziehungen zu beenden. Letztere veranschaulicht Getachew an der Eingliederung von Äthiopien und Liberia in den 1920ern in den Völkerbund. Während diese im Westen oft als der Wendepunkt betrachtet wird, an dem die imperiale Ordnung von einer postkolonialen abgelöst wurde, spricht die Autorin von einer „ungleichen Integration“ der beiden Nationen in eine althergebrachte Ordnung, deren Ziel Ausbeutung war. „Anstatt Gleichheit und Nichteinmischung zu gewährleisten, schufen ihre Inklusion und Mitgliedschaft die Bedingungen für ihre Ungleichheit und ihr Beherrschtwerden innerhalb der internationalen Gemeinschaft.“ Anschließend zeigt sie facettenreich, wie bis in die 1960er-Jahre hinein nicht-weiße Souveränität abgelehnt und verweigert wurde. In dieser Phase verschrieben sich antikoloniale Aktivisten:innen der Idee des Nationalismus, um Unabhängigkeit zu erlangen.Der Niedergang in der Welt nach den Imperien wiederum meint die Ablösung von politischen Prinzipien durch neoliberale Marktlogiken, in deren Folge die jungen postkolonialen Nationen in innenpolitische Krisen und außenpolitische Abhängigkeiten gerieten. Dem versuchte die antikoloniale Bewegung mit unterschiedlichen Konzepten zu begegnen, indem man sich beispielsweise regional verbündete. Getachew zeichnet die Versuche nach, eine Neuausrichtung der Weltwirtschaft durchzusetzen, die Besitz und Macht zugunsten des globalen Südens umverteilt. Der Siegeszug der neoliberalen Ideologie machte dieser Illusion ein Ende.Dieser nicht ganz leicht zu lesenden, aber ungemein scharfsinnigen Studie liegen die Ideen von antikolonialen Intellektuellen wie Nnamdi Azikiwe, W. E. B. Du Bois, Frantz Fanon, C. L. R. James, Michael Manley, Kwame Nkrumah, Julius Nyerere, George Padmore und Eric Williams zugrunde. Über deren Lebenswege kommt Getachew den realpolitischen Widersprüchen auf die Spur, denn einige der Genannten übernahmen politische Verantwortung. Azikiwe wurde in Nigeria erster Staatspräsident, Nkrumah in Ghana und Julius Nyerere in Tansania. Eric Williams stieg in Trinidad und Tobago zum Premierminister auf, Michael Manley in Jamaika. Autoritäre Führung war ihnen nicht fremd. Getachews Arbeit weist aber auch zwei Schwachstellen auf. Einerseits beschränkt sie sich auf den Black Atlantic, den anglo-amerikanischen Kontext. Die Emanzipation der von den Niederlanden, Portugal, Spanien oder Frankreich unterworfenen Staaten kommt zu kurz. Andererseits bleibt sie in den elitären (männlichen) Zirkeln von Politik und Theorie stecken. Die revolutionären Massenbewegungen sowie aktuelle postkoloniale Herausforderungen – Klimawandel, Ressourcenknappheit, Wiedergutmachung – werden nur gestreift.„Die Geschichte der Dekolonisierung, die ich in meinem Buch erzähle, handelt von staatlichen Akteuren und konzentrierte sich auf die Generalversammlung der Vereinten Nationen“, erklärte Getachew gegenüber Jacobin. „Dass die Kämpfe unserer Zeit in dieser Form weitergeführt werden, ist unwahrscheinlich.“ Ihr Buch beweist, dass es sich lohnt, die Vorgeschichte dieser Kämpfe zu kennen, um den postkolonialen Vorhang zu lüften.Placeholder infobox-1