Kann man noch mit jemandem befreundet sein, wenn man ständig damit rechnet, getäuscht zu werden? Ist das Gute noch vorstellbar, wenn die Grunderfahrung im Schlechten besteht? Lohnt sich dieses Leben? Dies sind nur einige Fragen, die bei der Lektüre von Hanya Yanagiharas Roman aufkommen. Das knapp 1.000 Seiten zählende Werk hat die 42-jährige Autorin ganz in den US-amerikanischen Literaturhimmel katapultiert. 2015 stand es auf der Shortlist für den Man Booker Prize sowie den National Book Award und gewann zudem den hochdotierten Kirkus Prize. Ist das Buch also tatsächlich so wahnsinnig gut?
Nun, die Geschichte beginnt als Bildungsroman, im Mittelpunkt vier befreundete New-England-Studenten. Willem Ragnarsson ist der Sohn europäischer Einwanderer, die in Wyoming ihr Glück gesucht und eine Ranch gepachtet haben. Seine Herkunft ist sein Antrieb, er will raus aus der Provinz und als Schauspieler die Welt erobern. Er schlägt sich als Aushilfskellner durch. Der Gegenentwurf zu Willem ist Malcolm Irvine, ein angehender Architekt, der von den Erwartungen seiner wohlhabenden Eltern überfordert ist. Er wählt zunächst den Weg des Dandys, wird aber später ein begehrter Baukünstler werden. Der Dritte im Bunde ist der pansexuelle Künstler Jean-Baptiste Marion alias JB. Der Sohn haitischer Einwanderer hilft nach seinem Studium bei einem kleinen Kunstmagazin aus und hofft, eines Tages darin Thema zu sein. Sein größtes Kunstprojekt besteht in der fotorealistischen Dokumentation seines Freunds Jude St. Francis. Ebenjener beschließt das Quartett. Der angehende Anwalt trägt allerlei körperliche Beschwerden mit sich herum, über deren Ursprung er sich krampfhaft bedeckt hält. Jude ist auch seinen Freunden ein wandelndes Mysterium. „Er hat nie ein Date, wir kennen seinen ethnischen Hintergrund nicht, wir wissen eigentlich gar nichts über ihn“, beschreibt JB seinen Freund an einer Stelle. Die Handlung des Romans wird sich wesentlich damit befassen, die Leerstelle von Judes Vergangenheit zu füllen.
Die Erzählung folgt den Schicksalen der vier Freunde über mehrere Jahrzehnte hinweg, wenngleich dies zu behaupten schon ein Wagnis ist. Denn Yanagihara lässt wie Salvador Dalí die Zeit zerrinnen. Es gibt wenig Andeutungen, wann genau dieser Roman spielt, noch Hinweise, über welchen Zeitraum hinweg sich die Erzählung erstreckt. Allein die Entwicklung der Freundschaft zwischen Jude, JB, Malcolm und Willem, ihr Übersiedeln nach New York sowie das Fortschreiten ihrer Karrieren lassen darauf schließen, dass es mehrere Dekaden sein müssen. Der Roman bekommt so einen postrealistischen Drive, ist aber auch postmodern, postmigrantisch, postgender und postsexuell.
Mit Rasierklingen
Ein wenig Leben ist so unablässig und umfänglich auf den Menschen und seine Existenz abgestellt, wie man es selten findet. Ethnizität, Sexualität oder politische Identität kommen zwar vor, spielen aber keine illustrative Rolle. Vielmehr spielt die Amerikanerin mit hawaiischen Wurzeln mit ihnen, um ihre Figuren aus herkömmlichen Klischees herauszuführen und ihnen größtmögliche Authentizität zu verleihen. Vielleicht ist es diese Eigenschaft, welche sie am stärksten mit der Fotografin Diane Arbus verbindet, die sich ebenfalls kaum für „das Normale“ interessierte.
In einem Gastbeitrag für das Kulturmagazin vulture.com räumte Yanagihara ein, dass sie Arbus’ berühmte Aufnahme des verdrehten Schlangenmenschen Joe Allen beim Schreiben inspiriert habe. Das Foto zeigt den Mann in seinem Hotelzimmer als „Backwards Man“ – seine Füße zeigen in die eine, sein Oberkörper in die andere Richtung. „Joe Allen ist eine Metapher für das menschliche Schicksal“, schrieb die Fotografin 1961 in ihr Notizbuch. „Der Mann, der sehen kann, wo er war“, der blind in die Zukunft läuft und dabei seinen Blick in die Vergangenheit wirft.
Die Vergangenheit ist in Yanagiharas Roman ein schwarzer Nebel, in den Jude immer wieder geht und der ihn von allen anderen isoliert. In diesen Momenten überfallen ihn unkontrollierbare Schmerzattacken, gegen die weder sein Arzt Andi noch sein Wahlvater Harold – die Bedeutung beider Charaktere nimmt im Laufe des Romans zu – etwas tun können. „Sein Körper gehört nicht ihm, er gehört seinem Körper“, beschreibt Andi die Situation an einer Stelle. Um die Kontrolle über seinen rebellierenden Leib irgendwie zurückzuerobern, malträtiert ihn Jude mit Rasierklingen und Hunger, bis es ihm das Bewusstsein raubt.
Die allwissende Erzählerstimme nutzt diese Delirien, um in Rückblenden Judes Lebensgeschichte zu rekonstruieren. Dabei tritt eine abstoßende Geschichte von Missbrauch und Gewalt zutage. Als Kleinkind wird er neben die Abfalltonnen gelegt – wie Müll wird er sich den Rest seines Lebens fühlen. Den deprimierenden Episoden in verschiedenen Pflegefamilien folgen Jahre des Missbrauchs im Priesterseminar. Zu dem väterlichen Bruder Luke baut er eine vertrauliche Beziehung auf, bis der Mönch mit dem Zehnjährigen flieht. Es ist der Anfang einer Odyssee durch Amerikas Motels, in denen Bruder Luke – der Mönch – den Jungen an fremde Männer verkauft, um ihn hinterher zu „trösten“. Parallelen zu Vladimir Nabokovs Lolita liegen nahe, nur versteckte Nabokov die sexuelle Gewalt in seiner poetischen Sprache, Yanagihara zerrt sie ans Tageslicht.
Als die Polizei den pädophilen Geistlichen festnimmt, soll Jude zurück ins Kloster. Er türmt und läuft seinem nächsten Peiniger in die Arme, einem gewissen Dr. Taylor, der den Teenager aus unbekannten Gründen eine (gefühlte) Ewigkeit lang in seinem Keller gefangen hält und quält. Die Erfahrung, der Willkür eines anderen ausgeliefert zu sein, wird Jude später auch in einer verhängnisvollen Beziehung sammeln, bevor er in Willem einen verständnis- und aufopferungsvollen Lebenspartner findet. Doch das Monster, das sich längst in seine Seele gepflanzt hat, flüstert ihm beständig zu, dass er ein Scheusal ist und Liebe nicht verdient hat.
Ergreifend, zärtlich, widerlich
Die fotorealistische Präzision, mit der Yanagihara die Gewalt beschreibt, die Jude erfährt oder sich antut, geht über die Grenze des Erträglichen hinaus. Erfahrene Leser werden deshalb mehr als einmal an Bret Easton Ellis’ American Psycho oder Emma Donoghues beklemmenden Roman Raum denken. Der Autorin geht es hier nicht um literarische Provokation oder Voyeurismus, sondern um das Erklären von Judes verstörendem Verhalten in der erzählten Gegenwart. Dabei konfrontiert sie die Leser mit dessen Trauma in derart radikaler Weise, dass ein Abwenden aus Gründen des eigenen Unwohlseins geradezu unmöglich ist. Judes Missbrauchsgeschichte nicht sehen zu wollen, beseitigt sie nicht. Vielmehr macht sie seinen Charakter erst plausibel.
Ein wenig Leben zu lesen ist, wie im Auge eines Orkans zu sitzen. Man ist zwar einigermaßen sicher, fühlt aber die existenzielle Gefahr des Sturms am eigenen Leib. Die gleichermaßen klare wie bilderreiche Prosa, fabelhaft übersetzt von Stephan Kleiner, ist eine permanente Zumutung, immer wieder will man das Buch angewidert von sich werfen. Zurückgehalten wird man von überwältigenden Momenten voller Zuneigung, Geborgenheit und Empathie. Diese Szenen aufopferungsvoller Selbstlosigkeit und bedingungsloser Liebe gehören zu den ergreifendsten und zärtlichsten, die die Gegenwartsliteratur hervorgebracht hat. Dieser Roman geht in jedem Sinne unter die Haut und lässt vor Ehrfurcht erzittern.
Schon in Yanagiharas erstem Roman The People in the Trees ging es um Missbrauch. Hier verschiebt sie den Fokus auf die heilende Kraft von Liebe und Freundschaft. „Der Trick bei Freundschaften besteht darin, Menschen zu finden, die besser sind als man selbst – nicht klüger, nicht cooler, sondern liebenswürdiger und großzügiger und nachsichtiger“, heißt es an einer Stelle. „Und ihnen zu vertrauen, was der schwierigste Teil ist. Aber auch der beste.“ Wie schwer es ist, zu diesem besten Teil durchzudringen, wenn das Gute unvorstellbar ist, davon erzählt dieser große Roman.
Info
Ein wenig Leben Hanya Yanagihara Stephan Kleiner (Übers.), Hanser 2017, 960 S., 28 €
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