Wenn wir über Geschichte sprechen, sprechen wir über das Leben von Menschen“, erklärt Dr. Jason Hargrace seiner Nichte Ailey, die als Historikerin in der dunklen Vergangenheit der Vereinigten Staaten stochert. Seine Aussage ist natürlich eine Binse, von der auch die Literatur lebt. Und zugleich bringt sie auf den Punkt, was Honorée Fanonne Jeffers’ Jahrhundertroman so außergewöhnlich macht: Er erzählt vom Leben der Menschen in den USA und wie dieses Land dahin gekommen ist, wo es heute ist.
Dafür taucht man in ein Dutzend Schicksale ein – mal nur für wenige Absätze, dann über Hunderte Seiten hinweg. Erzählt wird die Geschichte der Garfields, einer Schwarzen amerikanischen Familie, die im Norden der USA lebt,
USA lebt, ihre amerikanischen Wurzeln aber in der fiktiven Kleinstadt Chicasetta im Südstaat Georgia hat. Im Zentrum steht dabei die jüngste Tochter Ailey, in deren Haut „Rot unter dem Braun“ schimmert und die sich selbst als „Gefäß voller Geheimnisse“ beschreibt. Als Ich-Erzählerin öffnet sie die Familienbüchse der Pandora und macht der Geheimniskrämerei ein Ende.Licht in finstre HöhlenDie Erzählung um Ailey Garfield liest sich wie ein klassischer Bildungs- und Emanzipationsroman. Wir erfahren von Aileys dunkelsten Kindheitserinnerungen, erleben ihr Aufwachsen in der Black Community – „Hey brethren! Hey sistren!“ –, werden Zeuge der Selbstermächtigung der Frauen in Aileys Ahnenlinie und verfolgen deren generationsübergreifenden Kampf gegen Rassismus und Klassismus. Dabei gibt es immer wieder Rückschläge, nicht alle stehen wieder auf. Ailey aber wird an einem Schwarzen College in die Fußstapfen ihres geliebten Urgroßonkels Root alias Dr. Hargrace treten, der dort als Lehrer über W.E.B. Du Bois und dessen Engagement für die Schwarzen in den USA doziert. Die junge Frau wird kritischer nachfragen als ihr Vorfahre und tiefer in die Geschichte eintauchen, um Licht in die finstren Höhlen von Vergessen und Verdrängung zu tragen.Ihre Gegenwartserzählung wird immer wieder von den „Songs“ unterbrochen, die von einem Ort handeln, der erst „Der-Ort-zwischen-den-hohen-Bäumen“, dann „Wood Place“ und inzwischen Chicasetta heißt. Hier taucht der Roman in die Gründungszeit der USA ab und erzählt davon, wie afro-indigene Frauen unter Männern wie Samuel Pinchard gelitten haben. Pinchard war einer der skrupellosen Europäer, die sich gewaltsam nahmen, was sie wollten: den Cherokee und Creek das Land, den Wolof und Yoruba die Freiheit und allen gemeinsam die Menschlichkeit. Vor allem auf junge Mädchen hatte er es abgesehen – das „linke Haus“ neben seinem Wohnsitz ist das Herz der Finsternis in dieser dunklen Welt.„Sie, die im Finstern wandelten, sangen Lieder in den alten Zeiten – Klagelieder –, denn sie waren müde im Herzen“, schrieb der Historiker und Soziologe W.E.B. Du Bois 1903 in seinem Essayband Die Seele der Schwarzen, einem Klassiker der US-Bürgerrechtsbewegung. Mit den Songs legt man das Ohr auf die Schiene der Geschichte und hört, wie die Ahnen von den Wunden der Vergangenheit singen. Diese Lieder ziehen sich auch durch die Geschichten der Familie Garfield, die am Ende viel enger mit ihnen verwoben sein werden, als man es anfangs ahnt.Mit Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois legte Honorée Fanonne Jeffers im vergangenen Jahr mit Mitte Fünfzig ihr fulminantes Romandebüt vor. In Gesprächen räumte die mehrfach ausgezeichnete Lyrikerin ein, dass sie einen langen Anlauf genommen habe. Seit über 25 Jahren habe sie Geschichten von Menschen aus Chicasetta aufgeschrieben, der Stadt, die sie dem Wohnort ihrer Großeltern nachempfunden hat. Als eine dieser Erzählungen bei einem nationalen Kurzgeschichten-Wettbewerb in die Endauswahl kam, beschloss sie, daraus einen Roman zu machen.Elf Jahre hat sie an dem Text gearbeitet, auch weil die Entscheidung, welche Figuren und Geschichten es in die Liebeslieder schaffen, nicht leicht gewesen sei. Kaum erschienen, ging der Roman durch die Decke. Er war für die bedeutendsten Literaturpreise nominiert, stand auf den wichtigsten Bestenlisten des Landes, Alice Walker, Oprah Winfrey und Barack Obama lobten ihn in höchsten Tönen.Und das vollkommen zu Recht. Die Amerikanerin erzählt darin die Geschichte der USA vor allem aus der Perspektive afro-indigener Frauen und gibt damit den Opfern der weißen (überwiegend männlichen) Gewalt die Deutungshoheit über die Vergangenheit. Mit den Liebesliedern hat man einen „Schwarzen feministischen Roman“ in der Hand, wie man ihn so noch nicht gelesen hat. Die kanonisierten Emanzipationsgeschichten von Autorinnen wie Harriet Jacobs, Zora Neale Hurston, Alice Walker oder Toni Morrison stehen dabei Pate. Die nigerianische Autorin Chimamanda Ngozi Aidichie hatte 2009 in einem TED-Talk davor gewarnt, dass wir Dinge missverstehen, wenn wir nur eine einzige Geschichte über ein Land hören. Jeffers nimmt diese Warnung ernst. In ihrem knapp 1.000 Seiten zählenden Epos erzählt sie viel mehr als nur Aileys Geschichte. Die Erzählung rund um die Garfields führt die Stimmen mehrerer Generationen zusammen und fliegt anspielungsreich durch die US-amerikanische Geschichte des 20. Jahrhunderts.Dabei bleibt der Roman nah bei seinen Figuren. Da ist Onkel Root, der zu dem „talentierten Zehntel“ gehört, das der Historiker W.E.B. Du Bois Anfang des 20. Jahrhunderts gefördert wissen wollte, um die Lage der Schwarzen Bevölkerung zu verbessern. Angesichts der Lynchmorde, die für Root und seine Schwester Pearl noch alltäglich waren, ein recht abstraktes Vorhaben. Pearls Tochter Rose, Aileys Großmutter, gehört zur Generation von Rosa Parks und Linda Brown, ist wie sie ein Kind der Rassentrennung und zahlt den blutigen Preis ihrer Abschaffung. Später wird sie ihren Sohn verlieren, der von einem rassistischen Wärter im Knast umgebracht wird. Ihre Tochter Belle wird einen Schwarzen Bildungsaufsteiger heiraten, aber auch da wird lange nicht alles gut, wie die Geschichten von Ailey und ihren Schwestern zeigen. So ziehen sich auf dem jahrhundertelangen Weg aus der Sklaverei in politische Spitzenämter Dramen und Traumata durch die Generationen der afro-indigenen Amerikaner, die bis heute wirken.Auch wenn die kollektive Erfahrung des Rassismus unauslöschlich ist, macht Jeffers deutlich, dass Schwarze Identität viel mehr als das ist. Sie ist eine kulturelle Erfahrung, die mit Erinnerung, Tradition, Kultur und Gemeinschaft zu tun hat. Eine Gemeinschaft, die oft auch durch den Magen geht, so dass Jeffers selbst von einem „Küchentisch-Epos“ spricht. Diese Aspekte blühen in den Lebenswirklichkeiten der Figuren auf und bilden – ohne vorhandene Differenzen sentimental wegzuwischen – einen gemeinsamen vitalen Erfahrungsraum.So ist der Roman politisch, ohne das vor sich herzutragen. Identitätspolitik, Intersektionalität und Postkolonialismus sind literarisch eingearbeitet. Zur Blackness der Figuren treten permanent kulturelle, geschlechtliche, klassenspezifische, politische oder historische Benachteiligungen. Die Hauttöne der Figuren reichen zudem von „schokoladenbraun“ bis „pfirsichfarben“ und spiegeln dabei nicht nur die Folgen der brutalen Kolonisierung Amerikas, sondern auch die lebensbejahende Vielfalt Schwarzen Lebens aus Langston Hughes Gedicht Harlem Sweeties.Weil der Roman dabei immer wieder die Brücke zur schmerzhaften Vergangenheit der indigenen und afrikanischen Amerikaner schlägt, sieht man dem Werden einer Nation aus der Perspektive der Unterdrückten zu. Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois ist eine Offenbarung, ein gigantischer Solitär, dem ein Platz im Kanon der Great American Novel sicher ist. Hier werden erstmals konsequent die Schicksale der indigenen, afrikanischen und europäischen Amerikaner in einen gemeinsamen Kontext gerückt und die Blutlinie der Opfer der Gründerväter konsequent bis in die Gegenwart nachgezeichnet.Der Text greift dabei immer wieder den speziellen Sound des afroamerikanischen Englisch mit seinen grammatikalischen und phonetischen Besonderheiten auf. In der ebenso bedachten wie gefälligen Übersetzung von Maria Hummitzsch und Gesine Schröder sind Versatzstücke davon erhalten, die den Übergang von formalen zu vertrauten Kontexten markieren. Die Bandbreite dieser eigenen Sprache, ihr musikalischer Sound und die Anlehnung an Mundarten und Traditionen kann dabei leider nur anklingen.Getragen wird all das vom unerschütterlichen Sprachgefühl der Lyrikerin Honorée Fanonne Jeffers. Ihre Prosa hat die Leichtigkeit des Swing, die Tiefe des Blues, den Rhythmus des Jazz und den Punch des Rap. Die sprachliche Wucht des Textes hat eine fast berauschende Wirkung – auch weil viele Dinge ineinandergreifen: Oral History und Geschichtsschreibung, kollektive Erfahrungen und das Wissen der Archive, Wut, Trauer und die unbändige Energie zu (über)leben.Placeholder infobox-1