Thomas Coraghessan Boyle war schon immer seiner Zeit voraus. 1982 debütierte er mit Wassermusik, einem Roman über Kolonialismus und Größenwahn. Zwei Jahre später erschien mit Grün ist die Hoffnung sein Kommentar zum Leben mit Marihuana, weitere drei Jahre darauf sein preisgekröntes Epos über die Eroberung des amerikanischen Kontinents auf Kosten der indigenen Bevölkerung (World’s End). Seither folgte über ein Dutzend weiterer Romane, in denen es um Kultur- und Identitätskonflikte, Migration, individuelle Freiheiten (Drop City, Dr. Sex) und das Wüten des Menschen auf dem Planeten geht.
Das immer rasantere Kippen des Ökosystems zieht sich wie kein anderes Thema durch das Schaffen des in Kalifornien lebenden Kultautors. Unz
as Schaffen des in Kalifornien lebenden Kultautors. Unzählige seiner Short Stories sind dem Umweltschutz und dem menschlichen Dasein unter Extrem(wetter)-Bedingungen gewidmet. Es mutet daher seltsam an, nun zu behaupten, endlich würde Boyle seinen Kommentar zum rasant fortschreitenden Klimawandel vorlegen. Und doch ist Blue Skies genau das: ein Klimawandel-Roman. Aber einer, wie man ihn bislang nicht gelesen hat.T.C. Boyle könnte „Blue Skies“ problemlos als Katastrophenerzählung strickenDas Genre erfreut sich zunehmenden Interesses, zuletzt haben die Katastrophenromane Das Ministerium der Zukunft von Kim Stanley Robinson (der Freitag 47/2021) und Jens Liljestrands Der Anfang von morgen für Aufsehen gesorgt. Boyles neuer Roman unterscheidet sich von diesen packenden Pageturnern nicht im Tempo, sondern in der Anlage. Es geht dem Literaturstar nicht um die literarische Ausgestaltung eines Katastrophenszenarios, sondern um die Beschreibung des Alltags unter den katastrophalen Bedingungen, die sich die Menschheit gerade schafft. Blue Skies erzählt von einer amerikanischen Durchschnittsfamilie in einer nicht allzu fernen Zukunft, in der eine Pandemie nicht so lange her ist, Grillen normaler Fleischersatz sind und Mensch und Maschine langsam miteinander verschmelzen. Viel entscheidender in diesem Übermorgen sind aber die herrschenden klimatischen Bedingungen. „Die eine Hälfte der Welt stand unter Wasser, die andere war ausgedörrt, und es gab eine Missernte nach der anderen. Menschen hungerten, sogar hier in Kalifornien. Überall waren Flüchtlinge.“Ist es möglich, in einer solchen Welt noch unbeschwert zu sein, Hochzeiten oder Geburtstage zu feiern? Natürlich, würde der Kalifornier in seinen roten Chucks auf diese Frage wohl lachend antworten. So lässt er uns eintauchen in die Welt der Cullens-Familie, deren Mitglieder alle ganz unterschiedlich auf diese Welt reagieren. Während die Eltern Ottilie und Frank auf einen gesunden Pragmatismus setzen, will Cooper mit missionarischem Eifer die Welt retten. Schwester Catherine denkt erst einmal an ihr eigenes Glück.Eine neue Zecken-SpeziesAls Umweltaktivist durchkämmt Cooper mit seiner Freundin die kalifornischen Wüstenlandschaften nach Insekten, um Rückschlüsse auf den Klimawandel ziehen zu können. Catherine, die zunehmend ins Zentrum der Handlung rückt, bastelt auf der anderen Seite des Landes in einem Stelzenhaus an ihrer Influencer-Karriere. Ihr Freund ist Bacardi-Markenbotschafter und schmeißt Partys für die (Einfluss)Reichen dieser Welt, zu denen Catherine gern gehören würde. Während er im Auftrag des Konzerns durch die Welt jettet, knabbert das steigende Meer an den Grundfesten ihrer gemeinsamen Zukunft.Zwischen der ausgetrockneten Erde Kaliforniens und den überfluteten Stränden Floridas pendelt die Erzählung hin und her. Problemlos könnte Boyle daraus eine simple Katastrophenerzählung stricken, aber das entspräche nicht seinem humanistischen Blick auf die Welt. Der Kalifornier interessiert sich für die Menschheit und ihre Existenz. Sein Klimawandel-Roman handelt deshalb nicht von den großen Naturkatastrophen, die sich am Rande vollziehen, sondern von den kleinen und großen menschlichen Dramen, die sich in einer immer lebensfeindlicheren Welt zutragen. Die Fauna drückt der Welt ihren Stempel auf, neben Hunden und Katzen treiben auch wilde Biester ihr Unwesen. So zeichnet etwa der unscheinbare Biss einer sich ausbreitenden neuen Zecken-Spezies Cooper für den Rest seines Lebens, während seine Schwester ihre Begeisterung für Schlangen bald schon bitter bereuen wird. Ottilie und Frank werden fassungslos die Schicksalsschläge ihrer Kinder bezeugen, während um sie herum die Welt mehr und mehr in Flammen aufgeht.Die allzu menschlichen Alltagssorgen seiner Figuren fängt der Amerikaner, souverän übersetzt von Dirk van Gunsteren, mit visionärem Gespür und schwarzem Humor ein. Er zeichnet seine Heimat als stinkendes „Schwitzland“, in dem sich ein modriger Geruch breitmacht, weil das Wasser nicht mehr zum Duschen reicht oder die tropische Hitze den Schimmel in jede Ecke drückt. Es ist eine Welt, in der nach der jahrelangen Hybris des Menschen die Natur erbarmungslos zurückbeißt. Boyle braucht nicht die großen apokalyptischen Bilder, um von der menschlichen Existenz in extremen Umständen zu erzählen. Die unter Wasser gesetzten Straßen und brennenden Wälder sind längst Wirklichkeit. Stattdessen zeigt er in eindrucksvollen Alltagsminiaturen, in welche Sackgassen und Abgründe die Ausweichbewegungen führen, mit denen sich die Menschheit selbst belügt. Eine Lösung hält er nicht parat, aber er gibt seinen Leser:innen die Chance, endlich mal das Problem zu verstehen. Damit ist er seiner Zeit einmal mehr weit voraus.