„Judele, sag mir doch, was ist fair für mich?“, bittet ein Großvater seine Enkelin, nachdem die ihm einen Vortrag gehalten hat, dass Fairness wichtiger sei als familiäre und persönliche Verbindungen. Nur wenn die Welt fair gestaltet sei, würden rassistische oder geschlechtliche Benachteiligungen ein Ende finden, so ihr Argument. Der Alte ist wenig überzeugt davon, dass das in der Praxis funktioniert. „Denk an meine Eltern“, entgegnet er, „bei einem Pogrom umgebracht, jedenfalls mein Vater von einem Mann umgebracht, meine Mutter aber getötet vom Pferd des Mannes, das weggerannt ist über sie, in Rschyschtschiw, an Jom Kippur 1905. Was war daran fair? Und dann war ich in Kiew als Waise, musste allein durch die Welt wandern.
rn. Fair?“Diese Szene veranschaulicht, wie die Perspektiven auf die Welt zwischen den Generationen amerikanischer Juden variieren. Sie zeigt aber auch, wie spielerisch und souverän der amerikansiche Schriftsteller Joshua Cohen zwischen den Katastrophen der Geschichte der Juden und ihrer ambivalenten Gegenwart zu wechseln vermag. Sie ist seinem neuen Roman entnommen, in dem er in einem Mix aus Fakten und Fiktion eine Episode aus dem Leben von Benzion Netanjahu, dem Vater des rechtsnationalen israelischen Ministerpräsidenten, erzählt. Weil der Roman „die Zweideutigkeiten der jüdisch-amerikanischen Erfahrung“ offenlege, wurde Die Netanjahus im vergangenen Jahr mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet.Der 42-jährige, in Somers Point, Jew Jersey geborene, Joshua Cohen ist das Wunderkind der amerikanischen Literatur. Mit seiner eigensinnigen Prosa seziert er die amerikanisch-jüdische Gegenwart und schreibt lustvoll gegen Tabus an. In seinem sechs Romane und vier Erzählbände umfassenden Werk gleicht kein Buch dem anderen. Sein Debüt Solo für Schneidermann (2007) handelt von einem Geiger, der statt eines Solos einen stundenlangen Vortrag hält. Die geniale Doppelgänger-Geschichte im Buch der Zahlen (2015) erzählt von einem gescheiterten Autor namens Joshua Cohen, der zum Ghostwriter eines gleichnamigen Internetmilliardärs wird. Und sein tausendseitiges Opus Magnum Witz (2010), an dem er neun Jahre schrieb, lässt die Sprache an der Unbegreifbarkeit des Holocaust imposant zerschellen.Die Netanjahus ist eine ebenso witzige wie deprimierende Erzählung darüber, was es heißt, als Jude in der (amerikanischen) Diaspora zu leben. Es ist aber auch eine zutiefst traurige Beschwörung jüdischer Geschichte, ein bissiger Kommentar auf den Zionismus, eine kluge Analyse der amerikanisch-israelischen Beziehungen und nicht zuletzt ein grandioser Campusroman.Sie wollen nichts lieber als eine normale amerikanische Familie seinBevor die titelgebenden Netanjahus dabei erstmals in Erscheinung treten, lernen wir Ruben Blum kennen, der am fiktiven Corbin-College Experte für „Steuergeschichte“ ist. In den ersten Kapiteln erfahren wir, wie er und seine Familie in der Ambivalenz „zwischen dem amerikanischen Zustand des Wählenkönnens und dem jüdischen Zustand des Erwähltseins“ leben. Denn immer wieder wird ihnen mit kleinen Kränkungen und Herablassungen unter die Nase gerieben, dass sie zunächst nicht als Amerikaner, sondern als Juden gelesen werden. Dabei wollen Rube, Edith und Judith nichts lieber als eine ganz normale amerikanische Familie sein. Wie sehr, lässt sich am besten an Tochter Judith zeigen. Weil ihr die Eltern keine kosmetische Korrektur ihrer jüdischen Nase gönnen, lässt sie sich von ihrem unwissenden Großvater eine Tür ins Gesicht schmeißen, so dass „eine komplette Wiederherstellung“ notwendig ist.Weil das Jüdisch-Sein an den Blums klebt wie Kaugummi am Schuh, kommt es zu jenem nebensächlichen und letztlich sogar unbedeutenden Ereignis in der Geschichte einer sehr berühmten Familie, von dem im Untertitel des Romans die Rede ist. Die Uni erwägt, Benzion Netanjahu den historischen Lehrstuhl anzuvertrauen, dessen Fachgebiet die Geschichte der iberischen Juden im Mittelalter ist. Ruben soll als einziger Jude im Lehrkörper Netanjahu vor Ort betreuen und die Auswahlkommission unterstützen. Also bereitet er sich vor, macht sich mit dessen Werk vertraut, studiert Empfehlungsschreiben und warnende Briefe. Dabei entsteht bei ihm der Eindruck, dass es sich bei Netanjahu um einen obskuren Zionisten im Historikergewand handelt, der jüdische Traumata in israelische Propaganda verwandelt. Benzion Netanjahu hat erst in der zweiten Hälfte des Romans seinen großen Auftritt.„Die Netanjahus“ – mitreißend übersetzt von Ingo HerzkeIn einem verbeulten Ford fährt er an einem Januartag 1960 vor. In Lumpen gekleidet stürmt die „ganze Mischpoche“ das Mittelstandshaus der Blums, die vollkommen überrumpelt sind. Die drei Kinder Jonathan, Benjamin und Iddo gehen über Tische und Bänke, die Eltern streiten sich herrlich über Gott und die Welt und später wird der Älteste der Gören noch freudig Blums Tochter besteigen. Philip Roth hätte sich das nicht besser ausdenken können.Die „Yahoos“, wie sie Blum bald nennt, kommen als jüdisches Klischee daher: laut, streitlustig und selbstbezogen. Diese Rolle nimmt Benzion auch bei seinen Auftritten an der Uni ein. Cohen inszeniert das unheimlich geschickt. Einerseits als burleske jüdische Satire, in der ein abgehalfterter Professor den Ahnungslosen dieser Welt die Leviten liest. Andererseits als radikalphilosophische Versuchsanordnung, für die ein manischer Professor das Kaddisch auf die jüdische Diaspora singt.In der mitreißend pointierten und furchtlosen Übersetzung von Ingo Herzke wird Cohens Genius sichtbar. Dafür bildet Herzke die jiddische Wortakrobatik nach, mit der Cohen der amerikanisch-jüdischen Wirklichkeit so umwerfend komische Szenen abringt, dass einem die Tränen kommen. Mit diesem Humor geht er immer wieder auch dorthin, wo es weh tut, in die Abgründe von Antisemitismus und Holocaust. Denn Geschichte ist niemals vorbei. Gewiss, das ist weder politisch korrekt noch „fair“, aber einfach grandios.