Wildes Alterswerk

Nigeria Er war der erste afrikanische Literaturnobelpreisträger: Der nigerianische Schriftsteller Wole Soyinka ist jetzt 87 Jahre alt. 50 Jahre nach seinem letzten Roman schreibt er noch einmal über sein Land
Ausgabe 22/2022
Wole Soyinka
Wole Soyinka

Foto: Getty Images

Abgeschnittene Fußnägel, weibliche Schamhaare und gebrauchte Monatsbinden gehören zu den harmlosen Dingen, die die Voodoopriester und Wunderheiler in diesem Roman von ihren Kunden verlangen. Wer wirklich verzweifelt ist, muss den schwarzen Magiern mehr bieten. Das wird dem auf Amputationen spezialisierten Chirurgen Dr. Kighare Menka bewusst, als er die Räume eines dubiosen Unternehmens in Augenschein nimmt, das die zweifelhafte Floskel „Human Ressources“ im Namen trägt. Dort bietet sich ihm ein Bild des Grauens. „Die Ware lag ausgebreitet da. Regalbrett um Regalbrett voll mit abgepackten Körperteilen – Schenkel, Fußknöchel, Nacken, Brüste, Finger, Gibbusgewebe, alles bestens konserviert. Föten und Geschlechtsorgane. Ganze an Haken aufgehängte Brustkörbe …“ Diese menschlichen Relikte warten auf ebenso hoffnungs- wie skrupellose Käufer, von denen es in der spiritistisch-religiösen Bevölkerung Nigerias genug gibt.

Das Geschäft mit abgetrennten Körperteilen ist in Wole Soyinkas fast 700 Seiten langem Roman Die glücklichsten Menschen der Welt Symbol für eine kaputte Gesellschaft, die – aufgrund von Scharia, Boko Haram und Kindersoldaten – mit abgetrennten Körperteilen vielfach Erfahrung hat. Religiöser Fundamentalismus, Autoritarismus und Korruption halten Nigeria seit Jahrzehnten fest im Griff. Soyinka hat das immer unmissverständlich kritisiert. Die Folgen waren jahrelange Haft, Exil und ein Leben in ständiger Opposition.

Akinwande Oluwole Soyinka – in eine arme Yoruba-Familie hineingeboren, beide Elternteile waren überzeugte Christen, der Vater Rektor einer Volksschule – ist einer der vielseitigsten Schriftsteller Afrikas. Seit er 1986 als erster Schwarzer Schriftsteller den Literaturnobelpreis erhielt, wurden seine Bühnenstücke auf der ganzen Welt gezeigt. Seine Memoiren, Essays und Gedichte genießen höchste Anerkennung. Im Alter von 87 Jahren legt er nun, fast 50 Jahre nach seinem letzten Roman, ein von leidvoller Erfahrung getränktes, wild mäanderndes und grimmiges Alterswerk vor, in dem er sich noch einmal die soziale und politische Wirklichkeit Nigerias und deren korrupte Eliten vorknöpft.

Die Regierung gleicht einer skurrilen Shitshow

Der Titel ist weniger Ironie als bittere Satire. Im Mittelpunkt der Handlung stehen vier Freunde, die während des Studiums in England den „Gong der Vier“ gegründet haben. In den 1960ern, kurz nach der Unabhängigkeit des Landes, kehrten sie zurück, um blühende Landschaften zu schaffen: Doktor Menka wollte eine Klinik in seinem Heimatdorf eröffnen, Ingenieur Pitan-Payne Straßen, Schienen und Paläste bauen, Finanzexperte Badetona Nigerias Wirtschaft auf solide Füße stellen, und Künstler Farodian träumte von einem westafrikanischen Hollywood.

Jahrzehnte später aber ist Farodian verschollen, Badetona in einen Finanzskandal verwickelt und Dr. Menka mit jenem skrupellosen Unternehmen konfrontiert, das „Human Ressources“ verkauft. Er bittet Pitan-Payne um Hilfe, dessen steile Karriere an einem Wendepunkt steht. Als Regierungsberater soll er auf einem UN-Posten entsorgt werden, weil er sich kurz vor den Wahlen mit dem Premierminister angelegt hat. Dieser führt als selbstherrlicher „Heger des Volkes“ das Land nach einem simplen Prinzip: „Tritt in den Arsch oder Geld in den Arsch.“ Entsprechend werden Oppositionelle beseitigt und Günstlinge gefördert. In skurrilen Shitshows werden jene zu Glücksrittern gekürt, die mit dem korrupten Staat, den brutalen Banden und hedonistischen Scharlatanen unter einer Decke stecken.

Soyinkas Roman handelt von entgleister politischer Gewalt und der Ohnmacht, sich ihr in den Weg zu stellen. Der überladene Text erschließt sich allerdings nur langsam, zu verschlungen sind die Pfade der von Inge Uffelmann übersetzten Erzählung. Letztendlich aber beeindruckt die Entschlossenheit, mit der Soyinka noch die dunkelsten Winkel der nigerianischen Wirklichkeit ausleuchtet und den (All-)Mächtigen in seinem Land furchtlos den Kampf ansagt.

Info

Die glücklichsten Menschen der Welt Wole Soyinka Inge Uffelmann (Übers), Blessing 2022, 656 S., 24 €

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