In der Nacht vom 24. März 1945 veranstaltete Gräfin Margit von Batthyány-Thyssen ein rauschendes Fest auf Schloss Rechnitz. Zahlreiche Mitglieder der Gestapo und lokale Nazigrößen nahmen daran teil, 180 ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter wurden am Rande der Feier erschossen. Über 60 Jahre nach den Ereignissen wird der Großneffe der Gräfin, der Schweizer Journalist Sacha Batthyany gefragt, was diese Geschichte mit ihm zu tun habe. „Nichts, warum auch, ist doch alles so lange her“, antwortet er eilfertig. Doch die Frage lässt ihn nicht los. 2010 erschien im Magazin der Süddeutschen Zeitung seine Reportage Das Grauen von Rechnitz, die nun Teil seines Buchs Und was hat das mit mir zu tun? ist.
Etwa zur gleichen Zeit widmet sich Naomi Schenck der Lebensgeschichte ihres Großvaters, der als Pionier der Fotochemie Karriere im Nachkriegsdeutschland gemacht hat. 2003, viele Jahre nach seinem Tod, hatte die Szenenbildnerin und Autorin bei Wikipedia gelesen, dass Günther Otto Schenck 1933 in die SA und 1937 in die NSDAP eingetreten ist. Sie war schockiert und fing an zu recherierchen. Ihre akribischen Recherchen mündeten in ihrem neuen Buch Mein Großvater stand vor dem Fenster und trank Tee Nr. 12.
Batthyany und Schenck gehören zu einer Generation der Enkel, die langsam zu durchbrechen versucht, was der israelische Psychologe Dan Bar-On als „doppelte Wand“ beschreibt: das eiserne Schweigen der Kriegsgeneration und das fehlende Fragen ihrer Nachkommen.
Das Massaker von Rechnitz wird Sacha Batthyany zum Fanal, um sich der Geschichte seiner Großeltern zu stellen, die auf dem von deutschen Truppen besetzten Familienanwesen am Kriegsende jüdische Zwangsarbeiter einsetzten. Als die faschistischen Pfeilkreuzler deren Kinder in die Züge nach Auschwitz trieben, bat das Ehepaar Mandl den Urgroßvater des Autors vergeblich um Hilfe. Fast 70 Jahre später versucht Batthyany zwischen Buenos Aires, wo er die Mandl-Tochter ausfindig macht, und Russland, wo sein Großvater in Kriegsgefangenschaft geriet, die wahre Geschichte seiner Familie zu finden.
Und was hat das mit mir zu tun? ist das Protokoll eines vielfachen Spannungsverhältnisses – zwischen dem befangenen Kriegsenkel und dem unabhängigen Journalisten, der überlieferten Familiengeschichte und den historischen Fakten, der Täter- und der Opferperspektive, der dunklen Vergangenheit und der hellen Gegenwart ... Aus Alltagserlebnissen, erinnerten Dialogen und ausgedachten Begegnungen, Aktennotizen, E-Mails und Tagebuchauszügen destilliert Batthyany eine Erzählung, die sich zwar der Geschichte seiner Familie nähert, jedem entlarvten Mythos aber eine neue Legende zur Seite stellt. Der Mash-up aus dokumentarischem Realismus und Fiktion macht aus dem Anliegen historischer Aufarbeitung einen Akt der familienbiografischen Beschwichtigung. Warum?
Kumulative Heroisierung
In ihrer bahnbrechenden Studie Opa war kein Nazi sprechen Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall von „kumulativer Heroisierung“, wenn die überlieferten Geschichten der Täter zu Opfer- oder Heldengeschichten umgeschrieben werden. Batthyanys Montage befördert diesen Prozess in beide Richtungen. Etwa wenn er das Kriegstagebuch seiner Großmutter Maritta neben das der Mandl-Tochter Agnes stellt. Oder wenn er die fiktive Begegnung des deutschen Wehrmachtssoldaten Böhme, der das Ehepaar Mandl erschoss, mit dem russischen Soldaten Simanowski durchspielt, der vielleicht im Kriegsgefangenenlager seines Großvaters Dienst leistete. Das Was-wäre-wenn? bezeichnet der Autor im Nachhinein als „zu verlockend“, um ihm nicht nachzugehen. Er hätte der Versuchung besser widerstanden, sie führt unweigerlich zu Relativierungen.
Der Historiker Per Leo, dessen Großvater im Rasse- und Siedlungshauptamt der SS tätig war, hat mit seinem Familienroman Flut und Boden eindrücklich gezeigt, dass die Montage von dokumentarischen und fiktiven Elementen aufgehen kann. Im Unterschied zu Batthyanys Sachbuch kann sich Leos literarische Verarbeitung das Spiel mit Realität und Fiktion leisten. Leo fand in der Mischung die klaren Worte, um die familiären Mythen zu entlarven. Batthyany aber verhindert mit der Fiktionalisierung die kritische Auseinandersetzung mit der Familienbiografie, weil er dabei geläufige Viktimisierungsszenarien wiederholt. Am Ende bleiben viele Fragen offen und die Macht über die Geschichte in der Hand der Täterfamilie.
Die Auseinandersetzung ist wahrlich ja nicht leicht. Habe ich meine Großeltern befragt? War ich fordernd genug? Und wäre ich bereit, Dinge öffentlich preiszugeben, die in meiner Familie nicht gesagt werden können? Bis heute ist nur eine Minderheit der Nachkommen von NS-Tätern bereit, diesen Schritt zu gehen, meint Dr. Oliver von Wrochem, Leiter des Studienzentrums der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Er hat mit zahlreichen Betroffenen gesprochen. Einige konnte er dazu bewegen, ihre Geschichte in seinem Anfang April erscheinenden Sammelband Nationalsozialistische Täterschaften. Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie zu erzählen.
Dabei ist die Zeit günstig. „Ich denke, dass wir als Dritte Generation, die wir mehr zeitlichen und deshalb auch emotionalen Abstand haben, mehr Chancen haben, die Wahrheit ans Licht zu bringen“, sagt Alexandra Senfft, die 2007 in Schweigen tut weh als eine der ersten ihrer Generation über ihre Geschichte als Enkelin eines SA-Führers schrieb. Ihr neues Buch Der lange Schatten der Täter erscheint im Mai.
Dass es gar nicht den vom Opa unterschriebenen Schießbefehl braucht, um an der Integrität der Großeltern zu zweifeln, sondern das jahrzehntelange Verschweigen der eigenen Haltung ausreicht, belegt Naomi Schenck. Den „moralischen Kompass“ muss ihr Opa an der Tür zum Labor abgegeben haben, der Chemiker stand dem NS-Regime passiv loyal gegenüber. Wenn Menschen um ihn herum verschwanden, schaute er weg, und auch nach dem Krieg war er nicht um Aufklärung bemüht. „Günther war nicht besonders politisch. Und das gefällt mir nicht“, schreibt die Enkelin in ihrem Buch. Sie stochert im Nebel der großväterlichen Biografie, findet viel Wahrscheinliches, wenig Sicheres – was sie ebenfalls zwischen offener Recherche und familiärer Loyalität schwanken lässt.
Den Täterbegriff ausdehnen
Das Bild ihres Großvaters ist bruchstückhaft. Sie stellt ihn als „bystander“ (Raul Hilberg) dar – kein Täter, aber willfähriger Zuschauer. „Insgesamt war sein Mittun wohl kein richtiges Mittun, sein Widerstand kein richtiger Widerstand“, sagt Schenck. Sofort denkt man auch hier an „kumulative Heroisierung“, ihr warmer Ton stützt den Verdacht. Schenck hält dem entgegen, „dass man auch Nöte, Dilemmata und Fehler unserer Großeltern anschaut und nachempfindet, statt sie pauschal zu entschuldigen oder zu dämonisieren. So werden wir uns bewusster über die Reichweite von eigenem moralischem Verhalten oder Nichtverhalten.“
Naomi Schencks Familiengeschichtsschreibung ist dennoch mutig, weil sie den Täterbegriff auf die große Masse der Zuschauer im Dritten Reich ausdehnt. In den verbleibenden Leerstellen ruht verschwommen das Porträt einer Generation, die sich ihr Leben lang in Schweigen gehüllt und ihre Kinder und Kindeskinder um die Wahrheit betrogen hat, dass sie sehr wahrscheinlich aus Täterfamilien kommen.
Viele deutsche Familien werden noch ihre eigene Büchse der Pandora finden. Denn mit den letzten Überlebenden des Naziterrors sterben auch die Täter. Ihren Nachkommen hinterlassen sie Tagebücher, Fotos und Dokumente, die das jahrzehntelange Schweigen brechen, indem sie überfällige Fragen aufwerfen. Es werden nicht die letzten dieser Bücher gewesen sein.
Info
Und was hat das mit mir zu tun?: Ein Verbrechen im März 1945. Die Geschichte meiner Familie Sacha Batthyany Kiepenheuer & Witsch 2016, 256 S., 19,99 €
Mein Großvater stand vorm Fenster und trank Tee Nr. 12 Naomi Schenck Hanser Berlin 2016, 336 S., 22,90 €
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