Sie waren bereits tot

Bataclan Fred Dewilde hat das Massaker von 2015 im Pariser Musikclub überlebt. Sein Comic zeigt Bilder des Grauens, es ist sein Befreiungsschlag
Ausgabe 41/2017
Der Feingeist fühlt sich augenblicklich an Dürer erinnert
Der Feingeist fühlt sich augenblicklich an Dürer erinnert

Abbildungen aus dem besprochenen Buch

Der Horror kommt ohne Vorwarnung, als eineinhalbtausend Fans der Rockband Eagles of Death Metal im Pariser Musikclub Bataclan ausgelassen feiern. Plötzlich Schüsse, Schreie, Panik. Die Menschen versuchen, der Gefahr zu entkommen, stolpern über erste Opfer oder laufen sich gegenseitig über den Haufen. Fred Dewilde – so das Pseudonym des Zeichners von Mon Bataclan (Mein Bataclan) – will einer am Boden liegenden Frau aufhelfen. Als er begreift, dass sie sich nicht bewegen kann, ist es zu spät, selbst noch zu fliehen. Zwei Stunden lang harrt er neben Élisa auf dem Boden aus und bangt mit ihr ums Leben.

Chaos aus Blut und Horror

Das, was in den zwei Stunden geschieht, wird hier in düsteren Schwarz-Weiß-Bildern festgehalten. Und auch im Comic kommt das Grauen ohne Vorwarnung. Gerade einmal zwei Seiten gibt der in Paris lebende Werbegrafiker seinen Lesern, bevor aus der Dunkelheit die Reiter der Apokalypse treten und das Feuer auf die Konzertbesucher eröffnen. Wie in Albrecht DürersHolzschnitt fallen vier Todesengel über die feiernden Menschen im Bataclan her. Dass für das Massaker am 13. November 2015 tatsächlich nur drei Attentäter verantwortlich waren, ist für den Comic nebensächlich. Entscheidend ist ihre bildhafte Darstellung als bösartige Skelette, die wie Vampire mit hässlicher Berechnung ihren Blutdurst stillen.

„Sie waren bereits tot, hatten jede Verbindung zum Leben, zu anderen Menschen bereits verloren“, wird sich Dewilde später erinnern. Im Bataclan selbst ist kein Raum für solch philosophisch anmutende Gedanken. Die düsteren Zeichnungen und knappen Texte des Franzosen sorgen dafür, dass man sich plötzlich in einem Chaos aus Tränen, Blut und Horror befindet. Dem Bild des Attentäters, der in den Saal brüllt, dass gehen könne, wer gehen wolle, folgt die grausame Wirklichkeit.

„Natürlich schießen sie. Wir bewegen uns nicht. Wir stellen uns tot, um zu überleben. Um hier rauszukommen ... oder es wenigstens zu versuchen! Jeder Herzschlag bedeutet einen Sieg über die Zeit. Jede neue Sekunde ist ein Nachschlag Leben, eine Prise Hoffnung.“ Dann explodiert etwas. Man sieht nicht, was es ist, die Folgen hingegen schon. „Auf Élisas Arm ist ein Fetzen Fleisch gelandet, MENSCHLICHES Fleisch. Ein Knochenstück bleibt direkt in unserem Blickfeld liegen. Vermutlich der Kopf eines Oberarms. ICH KANN NICHTS MEHR HÖREN. Ich höre nur noch ein gewaltiges Brausen und werde panisch.“

Dewilde bekommt nicht mehr mit, was um ihn herum passiert. Ob Schritte oder Schüsse näherkommen oder sich entfernen. „Wir alle sind nackt, wehrlos, einfach nur menschlich“, wird er sein Gefühl beschreiben. Zwei Stunden lang dauert das Unfassbare, bevor die Polizei das Gebäude stürmt und die Attentäter überwinden kann. Dem Franzosen reichen für die Abbildung der Ereignisse etwas mehr als ein Dutzend Seiten. Dabei wechselt er zwischen Totalen und Naheinstellungen, schneidet Täter- und Opferperspektiven gegeneinander oder lässt die Bilder in Einzelteile zerspringen, um der zerplatzenden Hoffnung auf ein Ende des Grauens ein Bild zu geben. Derart beschränkt sich der Franzose auf das Wesentliche und gleitet nicht in ausufernde Gewaltpornografie ab.

Mon Bataclan steht in einer Reihe Comics, deren Zeichnungen direkt der Hölle abgerungen scheinen. Man denke nur an die aufwühlenden Reportagen von Joe Sacco aus Jugoslawien, an Jacques Tardis drastische Weltkriegsgeschichten oder Art Spiegelmans Holocaust-Aufarbeitung. Wie die deutlich umfangreicheren Arbeiten dieser Autoren ist der vorliegende Comic Ausdruck einer inneren Unruhe und Teil der Bewältigung der Ereignisse. „Zeichnen hat mich besser befreit als Reden. Meine Zeichenstriche konnte ich weniger kontrollieren als meine Aussagen. Ich war weniger zurückhaltend – und ein Bild gibt immer mehr preis als Worte.“

Keine Gewaltpornografie

Vor Dewilde sind diesen Weg bereits zwei ungleich bekanntere französische Zeichner gegangen. Rénald Luzier alias Luz und Catherine Meurisse, zwei ehemalige Charlie-Hebdo-Mitglieder, haben die Ereignisse rund um den Anschlag auf die Redaktion des Satiremagazins in Comicalben verarbeitet. Was Mon Bataclan von Luz’ Katharsis oder Meurisses Die Leichtigkeit unterscheidet, ist die Unmittelbarkeit der Ereignisse. Meurisse und Luzier waren am 7. Januar 2015 nicht in der Redaktion, als dort die Kouachi-Brüder elf Menschen erschossen. In ihren Comics beschreiben sie die Tage und Wochen nach dem Anschlag. Dewilde gibt hingegen einzig dem tödlichen Wüten der Terroristen und dem Kampf ums Überleben ein Bild.

Um diese Bilder zu zeichnen, musste er ein zweites Mal durch die Hölle gehen. Er hat erst alles aufgeschrieben, woran er sich erinnern konnte, „Kleinigkeiten, kurze Zeilen“, um sich dann ans Zeichnen zu machen. Was in dieser Zeit in ihm vorgegangen ist, schildert er in einem umfangreichen Nachwort.

„Trotz aller Bemühungen bin ich noch immer nicht da rausgekommen. Ein Teil von mir liegt immer noch im Konzertsaal in einer Blutlache.“ Mit Mon Bataclan: Vivre encore (der französische Titel ist besser als der deutsche) steht Dewilde vom Boden auf und kämpft sich zurück ins Leben.

Info

Bataclan: Wie ich überlebte Fred Dewilde Bettina Frank (Übers.), Panini 2017, 50 S., 16,99 €

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