Allen Trends widerstehend

Auszeichnung Der Schweizer Regisseur Christoph Marthaler ist in Oslo mit dem Internationalen Ibsen-Preis ausgezeichnet worden. Er hat Theater geschaffen, dass es so vorher nicht gab
Christoph Marthaler bildet mit seiner Theaterkunst eine Art Gegenwelt zum galoppierenden Neoliberalismus
Christoph Marthaler bildet mit seiner Theaterkunst eine Art Gegenwelt zum galoppierenden Neoliberalismus

Foto: Cornelius Poppe/AFP/Getty Images

Im Gespräch am Tag nach der Verleihung des hoch dotierten Preises (260.000 Euro) erinnert sich der Schweizer Regisseur Christoph Marthaler an seine Studententage, als er in Zürich und Paris als Straßenmusiker Geld dazu verdienen musste. Er studierte klassische Oboe und Flöte, in Paris dann bei dem großen Pantomimen Jacques Lecoq. Auf den Straßen waren Flöten aus Plastik besser zu gebrauchen, weil die ja im Regen nass werden, wie Marthaler verschmitzt erklärt. Und er zieht eine solche Flöte aus der Blumendekoration, um vergnügt, aber auch ganz ernsthaft etwas aus seinem historischen Repertoire darauf zu spielen. Eine Szene wie aus seinen Stücken, die voller Lieder und skurriler Figuren nun schon seit Jahrzehnten die Theaterwelt verzücken.

Angefangen hatte Marthaler als Theatermusiker, der aus der Struktur des Liederabends (der wiederum offen für alle möglichen Lieder) allmählich eine ganz eigene Theaterform entwickelte. Als Frank Castorf in Basel eine solche Aufführung mit Schweizer Soldatenliedern erlebte, lud er Marthaler an seine damals gerade aus der Taufe gehobene Volksbühne ein. Es entstand die legendäre "Murx"-Inszenierung (1993), die zur Signatur von Marthalers Theater wurde: Das zwischen mitgebrachten Schweizer Schauspielern und Resten des alten Volksbühnen-Ensembles in einer Wartehalle der Vergessenen ausgebreitete Liedgut traf einen Nerv. Nicht sofort, wie der Schauspieler und Marthaler-Veteran Ueli Jäggi jetzt sich erinnerte, denn nach den ersten nur schwach besuchten Vorstellungen sah es so aus, als könne man in Berlin gleich wieder einpacken. Doch dann kamen unerwartet neugierige junge Leute, die Merkwürdigkeit mit den schon fast ins Nichts abgesunkenen Volks-, Kampf- und Kirchentagsliedern sprach sich herum, und schließlich gab es sogar internationale Gastspieleinladungen für diesen Abend. "Murx" wurde Kult. Es soll Menschen gegeben haben, die den über 170 Mal gezeigten Abend regelmäßig zu therapeutischen Zwecken besuchten. Fest steht, dass die Telefonwarteschleife der Volksbühne mit dem sich ins Aberwitzige steigernden "Danke"-Lied noch jahrelang bespielt wurde und DVDs von "Murx" weiterhin verkauft werden.

Im altehrwürdigen Nationaltheater von Oslo wurde anlässlich dieser Nobilitierung von Marthalers allen Trends widerstehender Theaterkunst die hoch interessante Frage aufgeworfen, warum sie sich trotzdem hat durchsetzen können. Seine Laudatorin und langjährige Dramaturgin Stefanie Carp brachte dafür die These ins Spiel, dass die Methode von Langsamkeit und der Verweigerung bereits perfektionierter Theaterstile (oft in der Optik der vom Verfall umwehten Bühnenräume Anna Viebrocks) eine Art Gegenwelt zum galoppierenden Neoliberalismus bildet. Da ist auf jeden Fall was dran, die Sache für den Künstler aber doch komplizierter. Für den Schweizer sind singende Bühnenfiguren zuallererst Menschenkunde. Nicht nur mit dem, was sie singen, sondern vor allem wie sie singen, sich bewegen und dabei aussehen. Das hat manche Zuschauer zum Lachen gebracht, andere, die die selbe Aufführung sahen, tief traurig gestimmt. Das Rätsel der viel beschworenen Marthaler-Melancholie auf den Schwingen seines musikalischen Humors bleibt damit trotzdem ungelöst.

Marthalers Auftritt in Oslo – gezeigt wurde im Rahmen des Ibsen-Festivals seine Abschiedsinszenierung an der Volksbühne "Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter" – kündete auch davon, wie dieser Mann mit warmherziger Freundlichkeit auf die Welt zugeht und dafür nur kleine Gesten braucht. Seine Dankrede auf Englisch hatte er wie auch die Flöte im Blumenbouquet auf der Bühne versteckt und dann im richtigen Moment herausgezupft. In ihr dankte er vor allem seinen Mitarbeitern, insbesondere dem Musiker Jürg Kienberger, seinem Schauspielkompagnon Graham F. Valentine, Stefanie Carp und Malte Ubenauf als Ko-Autoren seines Werks, das, theaterwissenschaftlich gesprochen, insgesamt ja von einem neuen Verhältnis zwischen Regie und Autorschaft zeugt, hält man sich einmal vor Augen, aus wie vielen verschiedenen Teilen und Quellen seine Inszenierungen zusammen gesetzt sind. Insofern ist die Begründung der im Auftrag der norwegischen Regierung international besetzten Jury vollkommen stimmig: Dass mit ihm ein Künstler ausgezeichnet wird, der wie einst Ibsen ein Theater geschaffen hat, das es so vorher nicht gab.

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