Ein kaum fassbarer Verlust

Nachruf Die Berliner Volksbühne hat Bert Neumann wie kein anderer für neue Stile geprägt. „Unfassbar“ müsste nun eigentlich auf dem Banner an der Stirn des Theaters stehen
Ausgabe 32/2015

1988 trat das Team Castorf/Neumann zum ersten Mal in Erscheinung. Die Inszenierung von Paul Zechs Rimbaud-Ballade Das trunkene Schiff , Frank Castorfs Ankunft aus DDR-Provinzen an der Berliner Volksbühne, wurde gleichsam schon zur Signatur für alles, was noch kommen sollte und ab 1992 Theater im neuen Deutschland plötzlich anders, wieder frisch und engagiert aussehen ließ. Bert Neumann hatte den ohnehin engen Raum im 3. Stock zu einem Schlauch mit wenigen Sitzreihen zusammengezogen – Henry Hübchen konnte praktisch den Zuschauern in die Haare greifen. Zugleich war dieser Raum eine surreale Spielhöhle mit einem Klavier, das halb aus den blauen Wänden ragte, die mit einfachem Packpapier verschlossene Öffnungen im dazugeschalteten Neonlicht freigaben. Es war traumhaft – und zauberte mit eher unedlen Zutaten wie den handelsüblichen Leuchtstoffröhren, die dann in immer wieder neuen Variationen in Castorf/Neumann-Produktionen zu sehen waren.

Bert Neumann, 1960 in Magdeburg geboren, in Ost-Berlin aufgewachsen, studierte Bühnenbild an der Kunsthochschule Weißensee in der ersten Hälfte der achtziger Jahre, als Theaterräume hauptsächlich noch aus Pappmaschee-Kulissen und allenfalls darin reingestellten Fundus-Möbeln bestanden. Ein solches Handwerk war nicht mehr sinnvoll zu verfeinern, und wohl deshalb stieß sich eine kleine Gruppe von Weißensee-Absolventen – darunter die Kommilitonen und ebenfalls späteren Castorf-Partner Hartmut Meyer und Peter Schubert – von solchen Konventionen heftig und erfindungsreich ab. Allein Neumann war es dann, der Realien einer damals verschwindenden Lebens- und Arbeitswelt in die Erfindung von Bühnenräumen einbrachte, um das Konkrete im Surrealen, oft sogar Magischen erscheinen zu lassen.

Unvergessen beispielsweise die dunkel ratternde Webmaschine für Castorfs Weber als Zentrum einer Inszenierung, die Hauptmanns Stück ganz und gar nicht historisch, sondern als Fanal auf dem Höhepunkt der Massenarbeitslosigkeit 1997 auffasste. Oder ein schon angejahrter Mercedes, der durch Johan Simons' Dostojewski-Spieler unter einem wie aus Amerika hereingeflogenen Billboard fuhr. Oder auch die vielen Gartenmöbel-Plastikstühle, die unter zahlreichen Dostojewski- und Bulgakow-Figuren der Volksbühnenschauspieler zersplitterten.

Theatergeschichtlich werden die von Neumann er- oder besser: aus der Wirklichkeit gefundenen Container mit seinem Namen verbunden bleiben. Schlicht, irgendwie zwischen schlechter Bungalowästhetik und improvisiertem Leben schillernd, gaben sie den großen Castorf-Inszenierungen den Auftrag und die dann theaterweit nicht immer treffend kopierte Rechtfertigung, die Schauspieler aus ihrem Inneren live zu filmen – für eine neue Verschwisterung von Film und Theater: die Nahaufnahme als Vergrößerungsfenster in einer komplexen Bühnenwelt.

Wurde der Container quasi zum weltweit erkannten Neumann-Markenzeichen, wusste der langjährige Ausstattungsleiter der Volksbühne trotzdem immer wieder mit bis dahin noch nicht Gesehenem zu überraschen. 1999 baute er für einen Shakespeare-Zyklus ein holzrohes Globe-Theater in den Berliner Prater, in dem der Zuschauer aus Logen wie in eine kleine Arena schaute, eine Ausgabe von Marx' Kapital hing dazu griffbereit an einer Toilettenkette. Zuletzt beeindruckte Neumann mit einem riesigen Orca, der in René Polleschs Musiktheaterstück Von einem, der auszog... zu gewaltigen Orchesterklängen herunterschwebte, um Martin Wuttke und Lilith Stangenberg darin aufzunehmen und Wuttke am Ende als Alien wieder auszuspucken.

Es waren aber auch vermeintliche Kleinigkeiten, die Neumann zum Gesamtkunstwerk Volksbühne beitrug. Fast jeder Berliner Theatergängerhaushalt versorgte sich aus dem Foyer des Theaters mit den von Neumann entworfenen Streichholzschachteln, deren Etikett immer auch als Kurzkommentar zur Zeit zu verstehen war. Zuletzt, als die Ära Castorf kulturpolitisch abgesäbelt wurde, gab es die Streichholz-Edition Game over.

Es muss ihn sehr verbittert haben, denn er sagte, er würde lieber ein Tatoo-Studio aufmachen als unter dem designierten Castorf-Nachfolger zu arbeiten. Auf das Banner an der Stirn des Theaters, eine weitere von Neumann erfundene Spezialität, die nicht nur weithin sichtbar und auch von Touristen vom Fernsehturm aus gut zu lesen war, setzte er in großen, trotzigen Lettern: verkauft. Dort könnte jetzt für die nächste Zeit, bis zum Einzug des letzten von ihm geschaffenen Bühnenraums für die Brüder Karamasow im Oktober, einfach stehen: unfassbar.

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