Geisterpremieren

Bühne Theater produzieren auf Vorrat, das ist ein neues Phänomen. Dank Corona stecken zig Inszenierungen in der Warteschleife
Ausgabe 15/2021

In den Theatern wird gearbeitet, auch in Zeiten des Lockdowns. Proben, Bühnenbild, Musik und Video, ganze Produktionen werden häufig nach Plan bis zur Premierenreife gebracht – und dann mit der Generalprobe auf Eis gelegt. Im Zuschauerraum sitzen ein paar Mitarbeiter des Hauses zusammen mit der Leitung und spielen Publikum. Mit Kichern, Lachen und Applaus am Ende. Dann wird alles auf einen späteren Termin vertagt, der natürlich auch schon in die komplizierten Spielplankalender eingepasst ist. Vielleicht im nächsten Monat, falls nicht, noch später. Oder auf Vorrat für die nächste Spielzeit. Das interne Kürzel GP für die Generalprobe lässt sich sinnigerweise auch für eine Geisterpremiere verwenden, die in vielen Theatern so stattfindet und deshalb auch so genannt wird.

An den großen Theatern beträgt der gesamte Vorlauf für eine Inszenierung bis zu zwei Jahre, von der Planung bis zur an sich dann recht kurzen Probenzeit einiger Wochen. Das ist alles getaktet und vertraglich geregelt. Frank Castorf, der am Wiener Burgtheater gerade Peter Handkes Stück Zdeněk Adamec beendet hat, führt einen auf Jahre ausgebuchten Arbeitskalender, in den mit einer Nachbestellung schlecht reingegrätscht werden kann. Nach der Geisterpremiere reiste das Inszenierungsteam in alle Himmelsrichtungen ab, der Bühnenbildner Aleksandar Denic zum Beispiel nach Belgrad, wo er zu Hause ist.

Das erklärt unter anderem, warum ein Premierenstau entsteht, denn wenn die Theater wieder offen sind, müssen diese neuen, jahrelang verabredeten und in dieser Liga teuren Inszenierungen herauskommen und gespielt werden. Der Stau wirkt zeitlich gesehen in beide Richtungen: nach vorn, aber auch zurück, wenn deshalb noch nicht abgespielte Inszenierungen vorzeitig aus dem Spielplan genommen werden. Man erkennt in dieser Krise die fein auf hohe Produktivität und künstlerischen Rang berechneten Betriebsstrukturen des Theaters noch schärfer. Aber auch die Unterschiede im Umgang mit diesem in der Theatergeschichte bis dato völlig unbekannten Phänomen, dass man zu viel des Guten hat und es nicht zeigen darf.

Proben, verschieben, absagen

Am Deutschen Theater in Berlin sieht der normale Premierenplan 27 neue Produktionen in einer Spielzeit vor. Pro Monat jeweils eine Premiere in den drei Spielstätten. Das ist ein riesiges Volumen, auch an Koordinationsarbeit. Zu Spielzeitbeginn im Herbst kam noch eine Handvoll neuer Produktionen auf die Bühnen, dann waren ab Anfang November, als die Bühnen wieder schließen mussten, Rat und Tat gefragt.

Intendant Ulrich Khuon gibt Auskunft, wie sein Theater damit umgegangen ist. „Es gibt drei Wege: Anprobieren und dann in einer bestimmten Phase mit den Proben aufhören. Verschieben in die nächste Spielzeit. Absagen.“ Letzteres betrifft vor allem Produktionen für die kleine DT-Box mit nur 70 Plätzen, wo es bis auf Weiteres unsicher ist, wie sie für ein Publikum sinnvoll geöffnet werden kann. Verschieben geht am besten mit den ans Haus gebundenen Regisseuren, die dann ihr passendes Zeitfenster finden. Für das Anprobieren hat Khuon eine interessante Erklärung. Er glaubt nicht, dass man im Theater „auf Halde produzieren kann, denn wenn eine neue Inszenierung herauskommt, muss sie die Frische aus den Endproben haben“. Die kann man nicht einfrieren und wieder auftauen, da geht die fiebrige Energie dieses Prozesses verloren. Also hört man mit dem Probieren irgendwo da auf, wo sich die Energie vermutlich noch einmal einstellen wird. „Das alles so zu machen, war keine absolute Strategie, sondern entstand aus der Absicht, möglichst flexibel mit jeder einzelnen Produktion umzugehen.“ Im Moment probt René Pollesch seine letzte Arbeit, bevor er Intendant der Volksbühne wird. Es könnte trotzdem auch eine Geisterpremiere werden. Eine andere Lösung fand Sebastian Hartmann mit dem DT für seinen Zauberberg. Der kam gleich als Streaming-Premiere heraus und ist als eine der schönsten Bühnen-Live-Film-Adaptionen zum Theatertreffen eingeladen. Hartmanns Regie-Besonderheit, die Schauspieler in einer Art von offenem System von Varianten zu führen, ließe sich ohnehin nicht „einfrieren“.

Am Theater Magdeburg, einem Mehrspartenhaus mit Oper, Ballett und Schauspiel, wird fertig probiert, was geplant und nicht aus dem Spielplan gekippt ist. Die Dimension der Vorplanung für diese Premieren reicht weit in die nächste Spielzeit hinein, sogar bis 2022 / 23. Das betrifft etwa das Musical Guys and Dolls. Im Schauspiel ist der Urfaust in der Regie des polnischen Gast-Regisseurs Krzysztof Minkowski in Arbeit. Am Ende steht wahrscheinlich eine Generalprobe, zu der 30 Theaterangestellte als Publikum eingelassen werden dürfen. Die in der vergangenen Spielzeit nur ein paar Mal aufgeführten Angels in America des Schauspieldirektors Tim Kramer werden nicht wiederkommen. Sicher, einen solchen Umgang mit dem Phänomen des Premierenstaus schaffen nur ausfinanzierte mittlere bis größere Häuser. Und doch wird das alles ein riesiges Loch in die Budgets reißen und wohl erst in einer späteren Phase der Corona-Kulturpolitik diskutiert werden.

Die Berliner Schaubühne hat das Problem, dass im Moment keine Gastspiele stattfinden können, mit denen sie einen nicht unwesentlichen Teil ihres Betriebs selbst finanziert. Regiestars wie Simon Stone und der Hausherr Thomas Ostermeier proben bis zur Generalprobe mit Schauspielern, die oft noch anderen Engagements nachkommen wollen oder müssen. „Diese Gastverpflichtungen und der Film, wo ja auch normal gearbeitet werden kann, treiben den Modus an“, sagt der Bühnenbildner und Ausstattungsleiter Jan Pappelbaum, der gerade mit Ostermeier an einer neuen Version des Ödipus probt, als Koproduktion mit Athen, womit sie selbst zusätzlich unter dem Zwang einer komplex geplanten Terminarbeit stehen. „Das zu koordinieren, ist vor allem eine Riesenaufgabe des Künstlerischen Betriebsbüros.“ Diese dem Zuschauer unsichtbaren guten Geister der Organisation sind wahrscheinlich die Helden der Stunde an den Theatern mit ihren ungewissen Aussichten.

Vergleichsweise einfacher, weil viel kleiner und in der Planung weniger komplex, haben es da Theater der Off-Szene, die freilich ganz anders unsicheren Zeiten entgegensehen. Aber auch dort wird fleißig geprobt und produziert. Das kleine Theater unterm Dach in Berlin-Prenzlauer Berg hat regulär einen Spielplan aus Gastspielen sowie Eigen- und Koproduktionen. „Wir haben in den letzten Monaten gleich vier Gerichte vorgekocht“, nennt es der technische Leiter Oliver Gayk. „Anprobieren“ und später zu Ende bringen, wäre im Off-Theater kein brauchbarer Weg. Gerade die Künstler sind ja auch froh, dass es die Arbeit gibt. Und einen Premierenstau dürfte es auch nicht geben, da viele Produktionen in der Regel nur drei oder vier Abende hintereinander gespielt werden und dann woanders hingehen oder bei Erfolg erst wieder nach einigem zeitlichen Abstand gezeigt werden. Geisterpremieren in dem Sinne gibt es auch nicht, es ist eben der Durchlauf, mit dem eine Probenarbeit ohne Premiere abgeschlossen wird. Vor ganz wenigen innerbetrieblichen Zuschauern.

Streamen aus der Not

Diesen Zustand ökonomisch zu betrachten, ist höchst heikel. Eine öffentliche Kunst, die im Moment keine Öffentlichkeit hat und notgedrungen auf Streaming-Wegen sich diese ein wenig zu erhalten versucht, arbeitet mehr oder weniger in bewährter Weise weiter. Das ist im besten Sinne: Systemerhalt. Aber nicht nur das. Denn die hochkomplexen Arbeitsabläufe des Theaterbetriebs über längere Zeit völlig zum Stillstand zu bringen, würde wahrscheinlich größere, möglicherweise irreparable Schäden anrichten. Und darin, wie immer mehr Geisterpremieren für einen immer größeren Premierenstau sorgen, steckt ja auch die Hoffnung der momentan noch schlecht auszuklügelnden Nachholspielpläne für Publikum. Möge Netflix dieses nicht für immer in sein Reich gebannt haben und das Theater verlockend genug bleiben.

Frank Castorf hat vermutlich als Regisseur auch auf dem Gebiet des Premierenstaus den Meister gemacht. Sein kurz nach dem ersten Lockdown im Berliner Ensemble angesetzter Fabian wurde gerade zum dritten Mal verschoben, am Schauspielhaus Hamburg bleibt der Geheimagent nach Joseph Conrad ein Gespenst wie sein Handke in Wien. Seine Opernprojekte wie Boris Godunow mit riesigen Chören wurden durch kleine operative Musiktheater-Kompilationen ersetzt. Der Regisseur, der vor einem Jahr mit einem krachenden Protest-Interview die Corona-Politik herausforderte, macht einfach weiter unter dem Motto, das für die ganze Branche gilt: arbeiten und nicht verzweifeln.

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