Hat der Boom gemacht

Akquise Zum 55. Berliner Theatertreffen reisen auch Scouts aus China an. Sie suchen nach importfähigen Inszenierungen
Ausgabe 20/2018

Wenn im Mai die zehn bemerkenswerten Inszenierungen des deutschsprachigen Theaters in Berlin gezeigt werden, sind seit einigen Jahren auch Regisseure, Festivaldirektoren oder deren Scouts aus China dabei und mischen sich unters Theatervolk. In wachsender Zahl, wie Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, stolz hervorhebt. Aber wer sind diese Besucher, und was interessiert sie?

Ophelia Huang vom Shanghai Dramatic Arts Centre ist bereits zum wiederholten Mal hier, in den Vorjahren hat ihr Theaterfestival Warten auf Godot (Deutsches Theater) und Common Ground (Maxim Gorki Theater) vom Theatertreffen nach China geholt. Huang hat lange für den British Council gearbeitet und war somit an der Schnittstelle, als die neue Welle internationalen Theaters in China vor 15 Jahren von Großbritannien aus angestoßen wurde. Danach folgte die Ausfächerung des Interesses ins deutsche Theater und mit ihm für seine führenden Regisseure. Huang beurteilt die Genese so: „Das, was sich im europäischen Theater seit dem Zweiten Weltkrieg entwickelte, wurde in nur wenigen Jahren nachgeholt. Dieser beschleunigte Nachvollzug ist Vorteil und Nachteil: Zum einen werden nur die besten ästhetischen Entwicklungen erfasst und zum Teil auch gleich adaptiert, zum anderen fehlt dafür einfach der Kontext.“ Der fehle aber auch für vieles andere in der sich rasend entwickelnden Kultur der Ungleichzeitigkeiten innerhalb Chinas. Der Große Sprung, den Mao einst verkündete, hat stattgefunden – in der Kultur. Das internationale Theater ist davon ein wichtiger Teil.

Von den Theatern in Berlin und Hamburg hört man immer wieder, dass sie Gastspiele in chinesischen Millionenstädten geben, deren Namen hier nicht geläufig sind. Umgekehrt gibt es bislang nichts aus China auf deutschen Bühnen. Das Phänomen des ungleichen Theateraustauschs berührt die Kultur des unbekannten Riesen, der für einige Theater hier längst zum wichtigen Partner geworden ist, ohne dass dafür Erklärungen bekannt sind.

Die beste Kanalisation

Jiny Lan ist eine Künstlerin aus Nordchina und hat als Malerin sogar schon Angela Merkel porträtiert. Vor 20 Jahren kam sie nach Deutschland und landete in Bochum. Dort wurde sie durch Zufall Statistin am Schauspielhaus und wirkte in einer Inszenierung von Leander Haußmann mit. Diese Erfahrung am Theater war für sie eine wichtige Station, um in Deutschland Fuß zu fassen. Dass es in China ein wachsendes Interesse am hiesigen Theater gibt, hält Jiny Lan, Jahrgang 1970, für selbstverständlich. Die quirlige Frau mit ihrem zu einer Art Tonsur rasierten Schädel erklärt: „Deutsche Sachen gelten in China als extrem cool. Mercedes und BMW sind Statussymbole, wie in Kulturkreisen allein schon die Kenntnis von Gerhard Richter und Jörg Immendorff angesagt ist. Dazu gehört jetzt auch der Besuch einer Theaterproduktion aus der deutschen Hauptstadt.“ Und sie liefert historisch-psychologisch noch einen Grund: Bis heute gilt die Kanalisation in Tsingtau, der Hauptstadt der ehemaligen deutschen Kolonie im Süden des Landes, als die beste in ganz China.

Die Berliner Schaubühne ist seit 2014 regelmäßig in China. Inzwischen wurden mehr als 40 Vorstellungen in fünf Städten gespielt. Drei bis vier weitere Gastspiele pro Jahr sind für die Zukunft geplant. Damit ist die Schaubühne der Spitzenreiter in China und dort in Theaterkreisen von Shanghai bis Peking bestens bekannt. Tobias Veit, Mitglied der Leitung, hat die Gastspiele organisiert und betreut. „China ist ein riesiger Markt, und die Schaubühne verfolgt mit ihren Gastspielen auch finanzielle Absichten“, sagt er. „Mit den Einnahmen dort werden neue Produktionen hier möglich.“

Zuerst wurde Fräulein Julie von Katie Mitchell gezeigt. Ihr technologisches Live-Film-Theater kam sofort an. „Für so etwas, das war schnell klar, gibt es eine große Faszination“, sagt Veit über die Anfänge. Später wurden Thomas Ostermeiers Hamlet und Richard III. als Höhepunkte europäischen Theaters gefeiert.

Ostermeier beobachtet eine Zuschauergemeinde, deren Neugier sich zu Kennerschaft entwickelt. Ganz problemlos läuft der Gastspielbetrieb in den meist neu errichteten Kulturbauten mit Sälen für 1.000 Zuschauer und mehr nicht immer ab. In Harbin, der Fünf-Millionen-Stadt im Nordosten, erinnerte die Atmosphäre an ein lärmiges Restaurant. Der Schauspieler Thomas Bading wunderte sich: „Das Publikum in Harbin war eine echte Herausforderung. Eine Riesenhalle, Leute machten während der Vorstellung Selfies, und Kinder rannten durch die Gänge. Zuschaudisziplin war praktisch nicht vorhanden. Selbst Lars Eidinger, der sich sonst mit seinen Improvisationen über Sprachen hinweg auf ein unbekanntes Publikum zubewegen kann, war ratlos.“ Nicht alles muss dabei der mangelnden Zuschaudisziplin einer noch jungen Mittelschicht mit ihren Kulturgebrauchsgewohnheiten zugeschrieben werden. Traditionell richten sich die überlangen Vorstellungen der Peking-Oper mit ihrem Potpourri verschiedener Darbietungen an den entspannten Zuschauer, der auch mal – anders als der konzentrierte Einschläfer in Europa – bewusst eine Auszeit nimmt von der stummen Versenkung in die Zuschaukunst.

Als der amerikanische Dramatiker Arthur Miller 1983 nach Peking kam, um dort am Volkstheater sein Stück Tod eines Handlungsreisenden mit chinesischen Schauspielern zu inszenieren, ließ er sich per Vorabsprache ein im westlichen Sinn „diszipliniertes“ Publikum garantieren. Millers Inszenierung markiert die erste Öffnung des chinesischen Theaters zur westlichen Kultur, nach den Exzessen der Kulturrevolution und in der Zeit der ersten wirtschaftlichen Stabilisierung unter Deng Xiaoping, die mit dem Boom-China von heute freilich kaum zu vergleichen ist.

Miller schrieb ein ganzes Buch über seine Arbeit, Der Handlungsreisende in Peking, das bis heute aufschlussreich zu lesen ist. Es erzählt viel von der Neugier der mitwirkenden Schauspieler, aber auch von Barrieren des Verstehens. Dass Willy Loman mit dem Vortäuschen eines Unfalls seine Lebensversicherung betrügen will, die Schlusswendung des Stücks, hatte auf der Bühne keine Grundlage, weil es in China keine Lebensversicherungen gab. Noch schwieriger fand Miller, in seinem Stück die Probleme des amerikanischen Individualismus für eine kollektivisch geprägte Gesellschaft zu vermitteln. Das hat sich grundlegend geändert. Aber Miller fand schon heraus, worauf sich ein Theateraustausch solch unterschiedlicher Kulturen gründen kann: vergleichbare Erfahrungen, die das Unterbewusstsein ansprechen, und ein Interesse an der anderen Form.

Heute besteht das Interesse an der Formsprache auch darin, wie man mit moderner Technik zeitgenössisches Theater macht. Ophelia Huang aus Shanghai findet auch deshalb beim diesjährigen Theatertreffen Beute Frauen Krieg mit der Regie von Karin Henkel aus Zürich am spannendsten. Die Inszenierung sei universell in ihrer neuen, feministischen Auffassung vom Trojanischen Krieg und darüber hinaus attraktiv wegen der ungewöhnlichen Raumordnung für das Publikum und der mit bester Technik unterstützten Spielweise der Schauspieler. Auf jeden Fall spektakulär und zugänglich, zwei Merkmale, die Theaterimporte generell aufweisen sollten.

Castorfs postkolonialer Faust hingegen sei zu kompliziert mit seinen Überlagerungen von historischen Bedeutungsschichten, deren Kontexte vom Paris des 19. Jahrhunderts bis zum Algerienkrieg ja hierzulande schon Verständnisschwierigkeiten bereiten. Dabei ist Castorf als bedeutender Regisseur in China bekannt, seine Inszenierung von Dostojewskis Spieler war dort zu sehen. Rückkehr nach Reims wäre von Interesse, schon wegen Ostermeier als Regisseur, doch ist die Problematik, wie sie aus dem Bestseller von Didier Eribon über die Rechtsdrift der Arbeiterklasse entwickelt wird, schwer zu verstehen.

Austesten des Möglichen

Ein Verständnis für rechts und links im politischen Spektrum des heutigen Europas kann nicht vorausgesetzt werden, zumal sich in China die Begriffe verkehren: Die Linke der Kommunistischen Partei steht für nationalkonservativen Patriotismus, die Internationalisierung des chinesischen Theaters dürfte ihr nicht am Herzen liegen. Doch die schreitet voran mit einem Publikum, das auch Kartenpreise von umgerechnet 50 bis 70 Euro ohne Weiteres zu zahlen bereit ist, denn extra subventioniert werden solche Veranstaltungen nicht.

Und was ist mit der Zensur? Es gibt nach wie vor administrative Direktoren der Theater, die darüber wachen, dass bestimmte Regeln und Codes eingehalten werden. Diese betreffen nicht unbedingt nur die politische Aussage, sondern vor allem die Darstellung von Nacktheit und Gewalt. Auch geplante Gastspiele werden daraufhin durchgesehen. Für die jungen chinesischen Theatermacher ist diese Art von Kontrolle längst eine Art Spiel zum Austesten des jeweils Möglichen. Mit dem Aufgreifen neuer Theaterformen aus dem Westen dürfte das noch komplizierter und durchlässiger werden. Denn es geht inzwischen nicht mehr um einen Willy Loman, den sein Autor ins chinesische Theater bringt, sondern um viel raffiniertere Verfahren des Theaters, die für eine institutionalisierte Zensur kaum greifbar sind. Auch das ist ein Aspekt dieses noch so ungleichen Austauschs.

Info

Das 55. Theatertreffen findet noch bis zum 21. Mai in Berlin statt

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