„Im Grunde bin ich Ossi“

Interview Autor Dag Solstad ist in Norwegen eine Legende. Er hält die Kartoffel für wichtiger als das Internet und ist Fan von Energie Cottbus
Ausgabe 41/2019

Neben Karl Ove Knausgård oder Tomas Espedal zählt Dag Solstad längst zu den wichtigsten Schriftstellern Norwegens. Seine Romane und Essays reflektieren kritisch die Entwicklung der norwegischen Gesellschaft seit dem Zweiten Weltkrieg, den Wandel des Landes vom sozialdemokratischen Egalitarismus zu einer konsumfixierten Gesellschaft. Solstad selbst ging den Weg von einem Mitglied der marxistisch-leninistischen Arbeiterpartei AKP in den 1970erm zu einem mitunter sarkastischen Kommentator seines Landes. Seine männlichen Protagonisten sind von der Gesellschaft entfremdete Außenseiter. Der New Yorker verglich Solstad in diesem Zusammenhang mit Philip Roth. Auf Deutsch erschien zuletzt T. Singer (1999) im Schweizer Verlag Dörlemann.

der Freitag: Herr Solstad, in Norwegen sind Sie berühmt. Wie kommt es, dass Ihr Roman „T. Singer“ von 1999 jetzt erst für das Jahr der norwegischen Literatur in Deutschland übersetzt wurde?

Dag Solstad: Darüber möchte ich nicht spekulieren. Außer in Skandinavien wurde ich aber generell ignoriert. Das könnte daran liegen, dass tonangebende Kreise in Norwegen nicht wollten, dass meine Romane außerhalb Norwegens bekannt wurden, es könnte aber auch daran liegen, dass tonangebende Kreise im Ausland, beispielsweise in Deutschland, nicht wollten, dass meine Bücher zum Beispiel in Deutschland bekannt wurden. Am wahrscheinlichsten ist eine Kombination der beiden im Grunde verständlichen Reaktionen. Ich war bekanntlich Kommunist, Maoist sogar. Warum sollte man dazu beitragen, dass dieser Maoist außerhalb seines ach so kleinen und darum begrenzten Landes gelesen wird? Das könnte sowohl auf tonangebende Norweger wie auf Deutsche (inklusive der Ostdeutschen) zutreffen. Vielleicht fehlt meinen Romanen aber auch das kommerzielle Potenzial, das kann gut sein, und dann kann man nachvollziehen, weshalb tonangebende Kreise keine zwingende Veranlassung sehen, die Bücher eines Maoisten in eine andere Sprache übersetzen zu lassen, und auch dass Leute in anderen Ländern sie nicht haben wollen, unverkäuflich, wie sie sind.

Ihre männlichen Protagonisten suchen ihren Platz in der Welt, nach enttäuschten Ambitionen. Singer zum Beispiel möchte Schriftsteller werden, scheitert aber schon am allerersten Satz. Das ist das Motiv des verschwindenden Manns, ohne Macht. Ist das Ihr großes Thema?

T. Singer strebt nicht nach Macht, die wenigsten Menschen streben nach Macht. Als junger Mensch hat er versucht, seinen Traum zu verwirklichen, nämlich Schriftsteller zu werden, einen Traum, der bei unglücklichen jungen Männern sehr verbreitet ist. Auch ich hatte diesen Traum als junger Mann. Weshalb sollte ich meinen größten Traum mit bissiger Ironie darstellen? Es hätte auch anders kommen können, und ich weiß mein Glück sehr wohl zu schätzen, während ich gleichzeitig mit tief empfun dener Sympathie auf diejenigen blicke, die wie T. Singer scheitern, der seine ganze Jugend darauf verwendet, seine Vision zu formulieren, in einem einzigen Anblick, in einem einzigen Satz, jedoch ohne Erfolg, weshalb er sich zu Beginn des Buchs mit 32 Jahren als ewiger Student wiederfindet, der sich um Aufnahme an der Bibliothekshochschule bewerben muss, um überhaupt überleben und ein stabiles Leben führen zu können. Möglicherweise ist T. Singer eine Beschreibung der schwindenden männlichen Macht in unserer heutigen, sogenannten freien Welt, aber das hatte ich nicht als Thema des Romans im Kopf.

Die europäischen Gesellschaften haben sich in den letzten 50 Jahren stark verändert, zu stark?

Ich glaube, die Veränderungen werden stark übertrieben. Ich kann nur für mich als Norweger sprechen, und mir ist bewusst, dass ein Deutscher ungläubig den Kopf schütteln könnte. In meinem Leben haben sich große Veränderungen vollzogen, aber waren die Veränderungen, die sich im Leben meiner Vorfahren zwischen 1750 und 1850 vollzogen haben, nicht ebenso groß, ohne dass diese in Begeisterungsschreie ausgebrochen wären, weil sie in einer einzigartigen Zeit lebten? Es waren norwegische Bauern, ihre Grundlage waren die Erbhöfe, sie wurden in ein Leben im Einklang mit den ewig wiederkehrenden Wechseln und Launen der Natur, im Kampf für ein Leben im Schweiße ihres Angesichts mit aufgezwungenen und freiwilligen Gebeten hineingeboren. Die eigene Stellung war festgelegt, aber man konnte in Armut versinken, sie wurde vom Vater an den Sohn vererbt. Von der Mutter an die Tochter: Grütze zu allen Mahlzeiten, das ganze Jahr hindurch. Dann kam die Kartoffel, die für meine Vorfahren ein größerer Glücksfall war als die Elektrizität für meine Großeltern, das Radio für meine Eltern und das Fernsehen für mich, und vermutlich auch als das Internet für meine Kinder. Gleichzeitig begann man, zur Selbstversorgung Gemüse anzubauen. Davor hatte alles bestellte Land als Weidefläche für die Haustiere gedient, die alle am Leben hielten. Zugleich ging im Namen der Aufklärung die Sterberate zurück, es überlebten ganze Kinderscharen, zehn bis zwölf Kinder pro Familie, mit der Zeit fast die gesamte Nachkommenschaft.

Was zu einer zunehmenden Zerstückelung der Höfe führte ...

... und zu einer Massenauswanderung nach Nordamerika. Damals kam es zu großen Umwälzungen, die Französische Revolution draußen in der Welt, gefolgt von den Napoleonischen Kriegen und den Reaktionen der alten Regime. In Norwegen verschwand das königliche Kopenhagen, verschwand der Dänenkönig mit seinem Reich und wurde ersetzt durch ein völlig neues Königtum, die Herrschaft des schwedischen Königs, was allmählich zu großem Nationalbewusstsein führte, mit eigener Verfassung, die man verbissen gegen die Machtansprüche des schwedischen Königs verteidigte und die diese vermeintlich im Stillstand sich befindliche Bauerngesellschaft 1850 schleichend in einen modernen, wenn auch kleinen und unbedeutenden Staat verwandelte. Als meine Vorfahren, sagen wir rund um das Jahr 1850 herum, starben, kurz bevor Marx sein Kommunistisches Manifest verfasst hat, konnten sie sich beruhigt zurücklehnen und uralt werden, gut und gerne so alt, wie es mir heute, 175 Jahre später, möglich sein könnte, und zu sich sagen: Was habe ich für ein seltsames Leben geführt. Der, der ich jetzt bin, erkennt den, der ich in meiner Jugend war, nicht wieder, ich bin ein völlig anderer geworden.

Sie sind der Nestor der zeitgenössischen norwegischen Literatur – wie würden Sie ihre Entwicklung in den letzten 50 Jahren beschreiben? Und wo stehen Sie jetzt?

Meine Anfänge als Schriftsteller liegen in einer modernistischen Tradition. 1965 hatte ich mein Debüt, war im Grunde einer der ersten modernistischen Romanautoren Norwegens, was unglaublich ist, aber Norwegen war literarisch gesehen sehr rückständig. Es war also höchste Zeit, dass etwas geschah.

Zur Person

Dag Solstad, geboren 1941, erhielt dreimal den norwegischen Kritikerpreis und 1987 den Literaturpreis des Nordischen Rates. Seit 2011 erhält er aufgrund seiner „Verdienste“ für die norwegische Literatur eine lebenslange Staats- rente von 200.000 Kronen (ca. 20.000 Euro) pro Jahr

Vor diesem Hintergrund feierten Ihre Bücher die ersten großen Erfolge ...

Bereits als 28-Jähriger erhielt ich den prestigeträchtigen Preis der Literaturkritiker und wurde mit einem meiner Bücher für den größten skandinavischen Literaturpreis nominiert, den Literaturpreis des Nordischen Rates, den ich um ein Haar bekommen hätte, wie mir später aus sicherer Quelle anvertraut wurde. Anschließend wurde ich Maoist und machte eine Kehrtwende. Das war 1971, auf dieser Basis schrieb ich meine Bücher bis 1989. Auch diese Bücher feierten literarische Erfolge. 1989 bekam ich schließlich den Literaturpreis des Nordischen Rates für meinen Roman Roman 1987. Manche, in die ich großes Vertrauen habe, sehen diesen Roman und ein paar andere, die ich in jener Zeit geschrieben habe, als meine besten Bücher an, sie wurden aber außerhalb Skandinaviens nie übersetzt. Doch diese Zeit ist vorbei, kehrt nicht wieder.

Es kam für Sie eine Wegscheide ...

Ja. Ich traf eine Entscheidung, wonach meine Bücher künftig nicht mehr von meinem Verhältnis zum Kommunismus handeln sollten. Auch wenn ich mich weiterhin als Kommunisten sah und von anderen so wahrgenommen wurde, war diese Zeit in literarischer Hinsicht vorbei. Ich war nicht erpicht darauf, Vergangenem nachzuweinen. Ich schrieb über andere Dinge. Ich sah mich als Zeitzeugen, der die schwierige Zeit beschreibt, in der wir leben.

Die norwegische Gesellschaft hat mit dem Aufkommen des Wohlstands eine enorme Beschleunigung erlebt. Wie sehen Sie die tiefere Wirkung?

Ich habe gelesen, dass die Reichen immer reicher werden, aber das hat mich literarisch nicht beschäftigt. In T. Singer tritt zwar ein reicher Mann namens Adam Eyde auf, der ganz offensichtlich ein Nachkomme des großen Industriegründers Sam Eyde ist, aber er ist eine auffällige Figur, eine Art Märchengestalt, der zu Beginn des Romans, also 1980, Direktor von Norsk Hydro in Notodden ist und behauptet, sein Ziel sei es, Generaldirektor von ganz Norsk Hydro A/S zu werden. Er gibt seine kapitalistische Sichtweise zum Besten, die offene wie die geheime, und ist überhaupt ein charismatischer und selbstgefälliger Mann, der dem neu angekommenen Bibliothekar T. Singer schließlich ein Exemplar seines Tippsystems überreicht, nicht das große, „das ist für Sie zu teuer“, sondern das kleine, auf das er, sollte eine Zeit kommen, in der T. Singer es brauche, alles setzen solle. Und diese Zeit kommt. Das ist der Kapitalismus in der Version Dag Solstads.

Sie haben mehrere Bücher über Fußballmeisterschaften geschrieben? Wie hängt das mit Ihrer anderen Arbeit zusammen?

Die Fußballbücher über die Fußball-WMs 1982, 1986, 1990, 1994, 1998, die ich zusammen mit meinem Kollegen Jon Michelet geschrieben habe, in denen wir jeweils eigenständige Teile verfasst haben, unabhängig voneinander, wobei wir uns in Gedanken, wenn man so will, ständig an den anderen wandten, waren ein einziges Vergnügen. Und für mich völlig ungewöhnlich. Normalerweise arbeite ich sehr langsam. Verweilend, grübelnd. Taste mich vorwärts, wieder und wieder, bis ich schließlich das gewünschte Resultat vor mir habe. Bei den Fußballbüchern, die, kaum dass wir von der WM heimgekehrt waren, innerhalb weniger Wochen geschrieben wurden, waren die Regeln andere. Hier galt es, schnell zu sein. Eine Entscheidung zu treffen und sich daran zu halten. Keine Grübeleien, kein Vortasten und Scheitern. Das funktionierte auch. Am schlimmsten war, dass mir diese Art der Arbeit gefiel. Ich erlebte sie als eine volkstümliche Art zu arbeiten. Ich bin ja kein volkstümlicher Autor. Das einzige Volkstümliche an mir ist der Fußball, Sport generell, vor allem die typisch sozialdemokratische Leidenschaft: Eisschnelllauf, und das lebte ich in diesen Büchern voll aus.

Sie haben auch über Ihre Leidenschaft für Energie Cottbus geschrieben. War dies ein Weg, um die DDR nach der Vereinigung zu verstehen?

Ja, und auch um Position zu beziehen. Im Grunde bin ich ein Ossi. Kurz nachdem meine Frau und ich in Berlin eine Wohnung gemietet hatten, in der wir zwischen 2000 und 2015 phasenweise wohnten, habe ich meine deutsche Mannschaft gefunden, nämlich Energie Cottbus, und ich habe sie all die Jahre, in denen sie es zum Erstaunen aller und zum Ärger vieler, in jedem Fall aber zu meiner Begeisterung schaffte, sich in der 1. Bundesliga festzukrallen, verfolgt. Ich war sogar bei mehreren Heimspielen gewesen, wenngleich nicht bei allzu vielen, von Berlin nach Cottbus sind es trotz allem gut 150 Kilometer. Heute halte ich zu Union Berlin, der Mannschaft aus Köpenick, die endlich in die 1. Bundesliga aufgestiegen ist. Die Heimspiele in der 2. Bundesliga habe ich mir oft angeschaut. Nicht jede Woche, aber oft genug, und öfter als die Spiele von Hertha im Olympiastadion. Die Hertha hielt sich die ganzen 15 Jahre, in denen ich in Berlin wohnte, in der 1. Bundesliga. Aber ich habe sie mir nie angeschaut.

Die Frankfurter Buchmesse präsentiert Norwegen als Gastland. Wie wirkt es sich auf Sie aus und wie prägt es die Perspektive auf die norwegische Literatur?

Dass Norwegen Gastland der Frankfurter Buchmesse ist, dürfte eigentlich keine Bedeutung haben. Früher oder später sind alle Länder Gastland, und dass Norwegen es noch nicht war, sagt viel darüber aus, wie bedeutungslos die norwegische Literatur im europäischen Kontext bisher gewesen ist. Dieses Jahr ist es allerdings anders. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Norwegen in seinen Reihen mindestens vier Nobelpreiskandidaten hat, angesichts der internationalen Anerkennung dieser Autoren. Außerdem zwei weitere Autoren, die vorläufig nicht denselben internationalen Status haben, in Norwegen aber mindestens ebenso große Anerkennung genießen, und dabei spreche ich nur von Romanautoren! Dahinter haben wir jede Menge Autorinnen, von denen einige schon jetzt international Erfolg haben. Ich für meinen Teil habe zu solchen Buchmessen ein ambivalentes Verhältnis. Wie man es auch dreht oder wendet, es sind kommerzielle Messen, am Ende zählen die Verkaufszahlen und nicht die literarische Qualität. Wir sind hilflose Gefangene in einem Spiel, das wir (das heißt ich) ablehnen. Vor ein paar Jahren habe ich meinen norwegischen Verlag überredet, mit mir zur Leipziger Buchmesse zu fahren, um zu sehen, ob sie etwas für uns sein könnte. Wir wurden enttäuscht. Wir erlebten sie als eine Art Frankfurt light. Dort war Schweden Gastland, und abgesehen von dem späteren Nobelpreisträger Tomas Tranströmer wurden nur Krimiautoren präsentiert. Das ist zwar gut und schön, aber nichts für uns.

Info

T. Singer Dag Solstad Ina Kronenberger (Übers.), Dörlemann 2019, 288 S., 22 €

Thomas Irmer hat alle Werke Dag Solstads gelesen, auch seinen Roman T.Singer. Er hat ihn schon mehrere Male persönlich getroffen, das Interview wurde jedoch per E-Mail geführt, die Antworten von Solstads Frau abgetippt und von Ina Kronenberger ins Deutsche übertragen

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