Lob der Sommerpause

Theater Was bleibt am Ende dieser irren Spielzeit? Unser Kritiker geht baden, eiskalt, und plaudert mit Kollegen
Ausgabe 29/2018

Die letzte Aktion des Kritikers am Ende der Spielzeit: ein Sprung ins kalte Wasser. Aber auch das ist irgendwie Theater, bestimmt sogar immersiv, wie das neue Zauberwort von der Kunst-Eintauch-Erfahrung lautet. Denn das morgendliche Frühschwimmen in der Nordsee wird beim kleinen, aber ausgesprochen feinen Ravnedans-Festival im norwegischen Kristiansand von der Choreografin Ida Gud angeleitet. Das heißt, auf ihr Kommando springen rund 30 Leute vom Festivalteam und ein paar Kollegen von der kritisch kommentierenden Zunft ins Meer.

Die zurückliegende Spielzeit war, auf den Betrieb als solchen geschaut, eine Abfolge von kalten Duschen und heißen Debatten. Sie begann mit der spektakulären, aber auch sinnlosen Besetzung von Chris Dercons Volksbühne, wobei sich hinterher noch herausstellte, dass einiges davon abgesprochen war. Die #metoo-Debatte erreichte das Theater mit der unschönen Erwartung, dass man in Theaterkreisen einen kleinen Weinstein, mindestens aber einen Wedel ausfindig machen würde. Dabei übersah man glatt, dass Dieter Wedel 2001 als Mitgründer der Nibelungen-Festspiele in Worms als Regisseur vor dem Dom tobte; allerdings nicht im Bademantel. Interessant ist, wie in den Machtmissbrauchsdebatten im deutschsprachigen Theater ein anderer Problemcluster allmählich sichtbar wird: In Köln und Bern ging es Intendanten an den Kragen, weil ihre im gleichen Betrieb exponiert arbeitenden Lebensgefährtinnen das Arbeitsklima verschlechterten. Und auch am Staatstheater Cottbus, wo auf den Rausschmiss des Generalmusikdirektors der Rücktritt des langjährigen Intendanten Martin Schüler überraschend folgte, ist eine ähnliche Situation der gefährlichen Liebschaften zu vermuten. Es geht also nicht um Pokneifen und Besetzungssex wie im vermeintlich vulgäreren Filmgeschäft, sondern um die Vermischung von Leitungskompetenz mit Küche und Bett. Da kommt noch was ganz anderes auf uns zu, als es die jüngsten Castorf-Interview-Erregungen und Frauen-Quoten-Betrachtungen erwarten lassen.

Nichts zu tun haben damit die Querelen um die Münchner Kammerspiele als Richtungsstreit über die Quadratur des Kreises: Lassen sich die neuen Theaterformen, die Matthias Lilienthal an einer der renommiertesten Bühnen des Landes durchsetzte, tatsächlich nicht mit den Erwartungen an Schauspielerlieblinge und, sagen wir, leuchtendes Regietheater vereinbaren? Die Frage hängt natürlich gleich an dem Dauerbrenner Freie Szene und wie man sie finanziert im Verhältnis zu den Stadt- und Staatstheatern. Stimmt die einst schlüssige These noch, dass 90 Prozent der Innovationen von dort kommen, aber nur ein Zehntel der Gelder dort hingeht?

Querschwimmer Marthaler

Ich habe da meine Zweifel und frage mal in meine internationale Wasserrunde, was aus dem viel bewunderten deutschen Theater davon bekannt ist. Die Unglücksgeschichte der Volksbühne natürlich, das andere kaum, ein Dieter Wedel gar nicht. In Kristiansand kamen wir zu der höchst eigenen Angelegenheit zusammen, wie es in Zeiten des vermehrten internationalen Austauschs um die Theaterkritik bestellt ist. Wo dafür eigentlich mehr Vermittlung gefordert ist, schrumpft die Kritik vielerorts auf standardmäßige Produktinformation für Kulturkonsumenten. Theaterkritik ohne historisches Gedächtnis und Bewusstsein vom Gesamtzustand der Gesellschaft. In Dänemark versucht man deshalb, die Qualität der Kritiken zu verbessern, indem man ihre Autoren schult und weiterbildet, gefördert von einer Stiftung der Zeitung Politiken. In Schweden möchte der Großverlag Bonnier dabei helfen, die Erscheinungsorte inklusive neuer Medien zu erweitern. Das sind zwei interessante Wege, die Theaterkritik zu erhalten – und bei beiden Beispielen wird die deutsche Website nachtkritik.de zum Vergleich genannt. Deren Redaktion feierte im November ihren 10. Geburtstag mit einem schon Berlinale-Partys vergleichbaren Empfang – branchenmäßig ein Saison-Highlight.

Nach fünf Minuten Kaltwasser drängen die positiven Beispiele: die Erhöhung der Theaterförderung in mehreren Bundesländern, praktisch eine Riesenwelle von Kulturgeld, auch beim Bund. Nach Jahren der Knappheitsrhetorik! Und sogar die rettende Wende in Mecklenburg-Vorpommern, wo im Schweriner Ministerium der Theaterwegsparer plötzlich von Bord ist. Wird sich das wirklich auswirken, nachdem in den deutschen Theatern in den letzten 20 Jahren ungefähr ein Fünftel aller festen Stellen für immer verschwanden, das Angebot hocherhitzt aber um genau die gleiche Prozentzahl erhöht wurde?

Diese wundersamste Zahl des Umbaus der öffentlichen Theater interessiert in Norwegen niemand. Dafür der Internationale Ibsen-Preis für Christoph Marthaler, der auch mit Blick auf seine Arbeit an der Volksbühne im September mit diesem neuen Nobelpreis des Theaters geehrt wird. Ein Querschwimmer, der lächelnd mit einer Zigarre im Mund in den dicksten Fjord schwimmt.

Was wird die nächste Saison bringen, fragt sich der erquickte Kritiker beim Abtrocknen. Eine Lösung für die Volksbühne, die Fortsetzung der Gender-und-Machtfragen-Debatten – und ganz klaglos wieder ja sensationelles Theater. Egal, jetzt ist erst mal richtig Pause. Zum Freischwimmen.

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