„Man lernt zu ertragen“

Porträt Burghart Klaußner spielt mit in Rainald Goetz’ „Reich des Todes“ in Hamburg. Über die Welt denkt er am liebsten bei knatternden Segeln nach
Ausgabe 24/2020

Die Laune ist gut, ja ausgelassen, beim Telefonieren nach den ersten Probentagen. Die wichtigste Frage gleich zuerst: Wie funktioniert das mit dem Abstandhalten? „Die Requisite hat uns aus Schwimmnudeln eine Art Reifrock gebastelt, damit wir nicht immer daran denken müssen. Aber wir sind, das ist mal ein Vorteil, von Anfang an auf der großen Bühne, denn es wird ja immer noch nicht gespielt.“ Klaußner, der gebürtige Berliner, wohnt seit Langem in Hamburg. Am Schauspielhaus bereitet Intendantin Karin Beier das neue Stück (nach 21 Jahren!) von Rainald Goetz vor: Reich des Todes. Politische Theorie handelt unter anderem vom 11. September. Es gibt darin die historische Figur des preußischen Generals Albrecht von Roon, für den sich der 70-Jährige in dessen Biografie vertieft. Es ist die von ihm ersehnte Rückkehr in seine Domäne, Figuren der Zeitgeschichte zu spielen.

Vor einem Jahr waren wir zusammen auf dem Wannsee segeln, um ausgedehnte Gespräche über Leben und Arbeit fortzusetzen. Dem Segelclub traten schon seine Großeltern bei. 1910, als dieser Wassersport in Berlin gerade erst in Mode kam und der Kaiser für den Spruch „Deutschlands Zukunft liegt auf dem Wasser“ bejubelt wurde. Die Großmutter führte als eine der ersten Frauen überhaupt ein Schiff auf der Ostsee, der Vater, Inhaber des Prominentenlokals „Zum Klaußner“, übernahm nach dem Krieg den Vorsitz im Segelclub und schenkte dem Jungen zu Weihnachten ein kleines Boot. „Das war die Pflanzschule des Segelns auf dem Wannsee“, so drückt es Klaußner aus. In den Gesprächen geht es viel um Rückblicke, reflektierte Einordnungen: Was ist wie gelaufen – und warum manches nicht viel früher? „Ich bin bei allem mindestens fünf Jahre zu spät gekommen“, sagt Klaußner ohne Bedauern.

Im Theater ein Schiffbrüchiger

Beim großen Film ging es sogar erst jenseits der fünfzig richtig los, mit dem strengen Pfarrer in Michael HanekesDas weiße Band, dann als Fritz Bauer, der die Ergreifung Adolf Eichmanns organisiert, und zuletzt Bertolt Brecht in Heinrich Breloers Filmbiografie. So wie sich auch andere Begabungen erst in diesem Alter zu entfalten scheinen: 2018 veröffentlichte er mitVor dem Anfangeinen mit feinem Witz und historischem Gespür erzählten Roman über die letzten Kriegstage in Berlin. Er tritt gelegentlich mit einer Band und Liedern von Marlene Dietrich bis zu den Beach Boys auf. Und nun, berichtet er am Telefon, geht es auch um die großformatige Verfilmung vonHeisenberg, in eigener Regie, dem Stück des englischen Dramatikers Simon Stephens über eine ungewöhnliche Paarbeziehung, in dem Klaußner bis vor Kurzem auf der Bühne in Düsseldorf und am Wiener Burgtheater zusammen mit Caroline Peters zu sehen war. Seine erste eigene Regie.Heisenbergbraucht unbedingt New York als einen der Drehorte, weil die Geschichte dort endet. Doch das ist selbst mit dem derzeitigen Normalisierungsoptimismus gerade noch unplanbar.

Noch während seines Studiums an der Berliner Max-Reinhardt-Schule (heute eine Abteilung der Universität der Künste) wurde Klaußner 1971 von George Tabori für sein StückPinkvilleengagiert. Vorher hatte er, so seine Worte, „ein bisschen in Theaterwissenschaften dilettiert“, an der Berliner FU, die seine Mutter sogar mitgegründet hatte und wo er gleich bei seiner Ankunft mit schüchternen Augen die erotisierte Selbstbefreiung der Wohnheime im Studentendorf Schlachtensee, bis dahin streng nach Frauen und Männern getrennt, erlebte. „Als ich ins Badezimmer kam, standen da sechs nackte Frauen und sagten: Komm rein!“ Bei den von ’68 inspirierten und damit vor allen Dingen an der jüngeren Vergangenheit interessierten Theaterwissenschaftlern ging es indes noch nicht so theorielastig wie heute zu. Der Brecht-Förderer Herbert Jhering wurde zu Hause besucht und erzählte staunenden Studenten von den großen Bühnenbeben der 1920er Jahre.

Bei dem bald folgenden Entschluss, sich auf der Schauspielschule zu bewerben, improvisierte der damals 20-jährige Klaußner ausgerechnet einen Schiffbrüchigen, der von einem vorbeifahrenden Schiff gerettet werden will. Das klappte, und der in Berlin seine Fühler ausstreckende Tabori besetzte den Jüngling mit den langen Locken in seiner gegen den Vietnamkrieg gerichteten Inszenierung. Die war vom Auftraggeber, den Berliner Festspielen, wegen Anti-Amerikanismus letztlich sogar verboten worden, fand dann aber doch als freie Produktion in einer Kirche statt, was die Aufmerksamkeit auch für die daran beteiligten Schauspielstudenten noch steigerte. „Es gab einen tollen jazzigen Sound von Taboris Musikmann Stanley Walden, und am Schluss waren wir alle nackt, das hatte also alle Ingredienzien modernen Theaters. Die Leute rannten rein und die dafür angereisten Intendanten suchten sich ihre Jung-Schauspieler aus.“

Bauer und Brecht

Er ist eine Theaterlegende, aber die meisten kennen den Schauspieler eher aus dem Kino, als gnadenlosen Pastor in Michael Hanekes MeisterwerkDas weiße Band(2010, Deutscher Filmpreis), als entführten Altachtundsechziger und Geschäftsmann in Hans WeingartnersDie fetten Jahre sind vorbei(2015, Deutscher Filmpreis) oder als Titelhelden in Lars KraumesDer Staat gegen Fritz Bauer(2016), dem Film über den hessischen Generalstaatsanwalt, einen deutsch-jüdischen Homosexuellen, der um 1960 die Frankfurter Auschwitz-Prozesse erkämpft hat. Im zweiten Teil von Heinrich Breloers Fernsehfilm überBertolt Brecht(2019) spielt er den aus dem amerikanischen Exil nach Ostberlin zurückgekehrten Theatermacher als gealterten, sterbenden Mann.

Burghart Klaußner wurde am 1949 in Berlin als Sohn von Heinz und Eva Klaußner geboren. Sein Vater war Betreiber des von vielen Promis besuchten Traditionslokals „Zum Klaußner“ in Berlin-Charlottenburg, das sein Urgroßvater 1875 gegründet hatte. Nach dem Bau der Mauer 1961 zog die Familie nach Gräfelfing bei München um. Die Eltern ließen sich scheiden; die Mutter heiratete erneut.
Nach Schule und Abitur begann er 1969 ein Studium der Theaterwissenschaften und Germanistik, welches er nach zwei Semestern abbrach, um an der renommierten Max-Reinhardt-Schule in Berlin Schauspiel zu studieren. Solche Familienerinnerungen sind in seinen ersten Roman eingeflossen, der 2018 erschien.Vor dem Anfangerzählt von den letzten Stunden, bevor im April 1945 die Hölle losbricht und der Häuserkampf beginnt. Von zwei Männern, die es geschafft haben, den Krieg zu überleben. Burghart Klaußner hat zwei Söhne und lebt mit seiner Frau in Hamburg.

Ein Traumstart, dem ein erstes Engagement am Berliner Schiller Theater folgte, wo Klaußner bei den Proben zur Uraufführung von Heiner Müllers Horatier vom Regie führenden Intendanten wegen Renitenz und Beteiligung an einer Flugblattaktion gleich wieder gefeuert wurde. Dahinter liegt in jener Zeit, nicht nur für diesen jungen Schauspieler, der grundsätzliche Konflikt zwischen den alten Theaterfürsten, die Klaußner eigentlich bewunderte, und einem Feuer, an den Dingen des Theaters anders und mit dem eigenen Kopf beteiligt sein zu wollen. Diese Idee der Mitbestimmung scheiterte später, in den siebziger Jahren, an unzählbaren Detailfragen. Da war Klaußner unterwegs auf seiner langen Wanderung durch die Theater in Köln, Hamburg, Frankfurt, Stuttgart, die komplette Landkarte der BRD, aber auch in den Stücken ihrer besten Dramatiker wie Kroetz oder dann dem aus der DDR kommenden Thomas Brasch, an dessen Uraufführung von Rotter in Stuttgart Klaußner ebenfalls beteiligt ist. Der Schauspieler hatte sich der Gruppe um den heute nicht mehr so bekannten Regisseur Christof Nel angeschlossen, aber so mit Aufmerksamkeit bedacht wie zu dieser Zeit etwa Peter Zadeks und Peter Steins Wunderspieler wurde er freilich nicht. Klaußner stimmt zu, wenn man diese Wanderjahre seine „Ausreifungszeit“ nennt, auch wenn er damals bei sehr vielen wichtigen Theaterproduktionen dabei war, ohne erst mal größere Beachtung. Rainer Werner Fassbinder und Werner Herzog, die seinerzeit wichtigen Autorenfilmer, die ohne Casting-Agenturen arbeiteten, kannten ihn nicht.

Für Klaußner waren das keine verzweifelten Hungerjahre, sondern spannende Expeditionen im Theater des Auf und Ab, auch mit später sich selbst eingestandenen Fehlern und Fehlgriffen. „Ich habe viele Freunde und Kollegen erlebt, die Erfolg hatten und dann verschwunden sind. Ich will nicht sagen, dass das grundsätzlich so sein muss. Aber was auf jeden Fall ausgebildet wurde, war ein langer Atem, die Fähigkeit des Durchhaltens, das Ertragen von Katastrophen.“ Als er mit seiner Frau Jenny zusammenkommt, einer Holländerin, die ihm bis heute zur echten Gefährtin wird, berät sie ihn bei seinem ganz allmählich aufsteigenden Werdegang. Auch das Fernsehen entdeckt Klaußner erst spät, aber wenigstens wird 1984 die SerieDas Rätsel der Sandbankzu einem großen Zuschauererfolg.

Dieses Segel- und Schatzsucherabenteuer in der Nordsee verband sich mit seiner bis dahin noch nicht angezapften maritimen Neigung. Wenn es ums Segeln geht, brechen sofort andere Gedanken ins Gespräch. „Der erste Schritt auf einen Steg oder auf ein Boot ist wie das Auslöschen aller Probleme, ein Neustart. Du bist sofort raus, komplett, aus der Zivilisation gefallen. Es ist ein nahezu antizivilisatorischer Akt, was es auch so anrüchig macht, weil man seine Zeit damit auch verschwenden kann.“ Die Ostsee wurde zu seinem Meer der Erkundungen, anfangs noch begrenzt durch Abschottung im Osten. Als die Mauer fiel, wurde mit dem ersten Segeltörn von Travemünde aus Hiddensee angesteuert, das Lokal „Zum Klaußner“ unterhalb des Leuchtturms besucht und anschließend die Ostsee ihrem Namen nach vermessen.

„Wenn du ins Baltikum kamst, warst du in der zehnfachen DDR und auch im zehnfachen Zeitquantum zurück. Du bist also in der Zeitmaschine. Die Ostsee ist die Zeitmaschine per se, weil die Reisen an den südlichen Rand der Ostsee Reisen in die Vergangenheit sind, denn dort herrscht Sand, das ist die Endmoräne, der Sand der Besiedlungen des Deutschen Ritterordens bis zur Marienburg und bis nach Tallinn, Reval, zu Werner Bergengruen, dem deutsch-baltischen Schriftsteller, und bis nach Petersburg.“ Aus der Passion wurde eine Art Philosophie, eine Weltbetrachtung unter knatternden Segeln. „Dagegen die andere Seite der Ostsee, die felsige Küste des skandinavischen Festlands. Die Insel Bornholm ist die Grenze: Im Norden ist Bornholm ganz felsig, im Süden ganz Sand. Das heißt, bis zur Hälfte der Ostsee ist Sand und dann kommt der Felsen. So weit ist das Eis gewandert. Und da, wo der Felsen kommt, ist auf einmal Gegenwart. Da ist komplette Gegenwart. Da ist gar keine Meditation, Vergangenheit, kein verhangener Blick. Da ist nur Obacht, Vorsicht, Felsen, Schroffheit, vielleicht sogar Bedrohung.“

Aber natürlich war in den letzten Monaten auch kein Segeln mehr möglich. Stattdessen: am Schreibtisch warten, dass es mit dem Theater wieder losgeht. Zwischendurch wurden die Streamings der Schaubühne aus der Peter-Stein-Ära verfolgt, mit Kollegen nostalgische Begeisterung am Telefon ausgetauscht. Nicht nur als Sternstunden, sondern auch als Erinnerung daran, was das Theater für Schauspieler bedeutet. „Nur in dem Moment des linearen Spiels vor einem Publikum lässt sich lernen und beurteilen, in welchem Verhältnis Spontaneität, Genauigkeit, Lebendigkeit und Reduktion zueinander zu stehen haben. Diese Dinge kann man nur mit Publikum und Kollegen auf einer Bühne in Erfahrung bringen.“

Thomas Irmer ist Autor und Kritiker bei Theater der Zeit in Berlin. Dort erschien im September 2019 auch sein Gesprächsband Backstage Klaußner

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