Polleschs Gedanken-Trampolin

Theater Höchste Erwartungen und ein kaum zu erfüllendes Vermächtnis – Manege frei an der Volksbühne
Ausgabe 38/2021

Unterm wallenden orangefarbenen Vorhang, der immer mal wieder in die Form eines Zirkuszeltdachs gezogen wird, soll ein weißes Kaninchen auf den schwarzen Bühnenboden gezaubert werden. Man sieht – der Vorhang ist da einen Tick zu schnell schon wieder oben –, wie ein Bühnenarbeiter das langohrige Tier aus einer Luke hievt. Ein verstolperter Zaubertrick. Gleich zu Beginn erläutert die hinreißende Kathrin Angerer ihrem Gegenüber Martin Wuttke ein Schießkunststück: „Wir sind hier im Zirkus, Sie müssen schon danebenschießen, sonst ist es keine Kunst.“ Volltreffer.

Vor der Volksbühne steht ein echtes Zirkuszelt, das wie fast alles an diesem Eröffnungsabend schwer mit Tradition behängt ist. Denn in einem solchen gründete vor 23 Jahren, in Zeiten eines anderen Wahlkampfs, Christoph Schlingensief seine Partei Chance 2000. Jetzt ist es vor allem Spielstätte des Jugendtheaters P14 und Bühne für Diskursabende. Zur Eröffnung kann man sich darin Bert Neumanns legendäres Räuberrad, als Zeichen der Pollesch-Intendanz zu einer bunten Lego-Figur gerastert, auf ein T-Shirt bügeln lassen. Das hat was von Jahrmarkt. Zwei Zirkuswagen stehen auch gleich daneben und erinnern an die Rollende Road Show, mit der die Castorf-Volksbühne in theaterferne Randbezirke Berlins und bis ins Ruhrgebiet zog.

So lugt hinter dem ganzen Drumherum immer die alte Volksbühne hervor, und man weiß nicht recht, ob das jetzt ein beseelter Umgang mit ihrem kaum zu erfüllenden Vermächtnis ist (insbesondere als Hommage à Bert Neumann) oder eine Geste, um die allzu hohen Erwartungen mit Utensilien des alten Dorfzirkus zu unterlaufen. Denn fünf Jahre nach dem politisch vorsätzlichen Abbruch der Castorf-Ära und den nachfolgend aus unterschiedlichen Gründen gescheiterten Intendanzen waren die Ansprüche von Politik, Medien und Kulturwelt an die nächste Intendanz ins Unermessliche gewachsen: Bitte mal das Theater neu erfinden, aber dabei auch die 2.500 Jahre seiner Geschichte berücksichtigen. Und die spezielle Tradition der Volksbühne als Zukunft noch dazu. Irgendwie so.

Ironisch ist das nicht gemeint

René Pollesch, der aus einer Art Luxus-Exil am Deutschen Theater zurückkehrt, wo er sehr lustige Komödien über das Theatermachen selbst inszenierte, findet stattdessen, dass der Zirkus und seine so halb im Verwegenen turnende Welt ein guter Anfang sein können: als Trampolin für seine Gedankensprünge, die häufig auch als Kommentar der eigenen Position zu hören sind. „Mein Neid auf neue Kunstformen hält sich eher in Grenzen“, räsoniert Martin Wuttke, der über weite Strecken der Inszenierung ein bewegliches Skelett auf dem Rücken trägt. Wuttke und Angerer werden umspielt von Margarita Breitkreiz und Susanne Bredehöft (die einst zum wilden Tross in Schlingensiefs Filmen gehörte). Das riesige Zirkuszelttuch für Aufstieg und Fall eines Vorhangs und sein Leben dazwischen hat Bert Neumanns Sohn Leonard Neumann für die Bühne entworfen und in Bewegung gebracht.

„Was ist ein Anfang? Der absolute Anfang, der große Sprung, damit kann man ja nicht unbedingt was anfangen. Der absolute Anfang wäre einem ja völlig unbekannt.“ Selten hat René Pollesch ein Thema, eine Situation so direkt adressiert. Und ganz ironisch ist das wohl auch nicht gemeint.

Info

Aufstieg und Fall eines Vorhangs und sein Leben dazwischen Regie: René Pollesch Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin

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