Nie war guter Rat teurer. Wie schafft man die Wiedereröffnung eines weltberühmten Theaters in der Verbindung von achtbarer Kontinuität und knackigem Neuanfang? In Berlin gleicht das der Flughafenfrage. Die zusätzlichen Millionen, die Chris Dercon für die Volksbühne in der Schatulle hatte, waren ja ebenso wenig die Antwort wie das ständige Nachschießen von Geld in den BER.
Kontinuität im Sinne Dercons ist nun, dass er aus seinem früheren Arbeitsbereich, den Museen für zeitgenössische Kunst in London und München, Tino Sehgal zur Lösung seines Problems heran und von den Berliner Festspielen weg zog, die diesem gerade noch allseits bewunderten Erfinder immaterieller Kunst unlängst eine Retrospektive ausgerichtet hatten. Sehgals Arbeit These Associations hatte Dercon indes in der Tate Modern präsentiert, vor fünf Jahren, mit durch den Raum wuselnden Performern, die obendrein das locker stehende Publikum mit kleinen Geschichten ansprechen. In der Art, wie man einer guten Freundin ein seelenerschütterndes Erlebnis von gestern aufdrängt und um entsprechendes Mitfühlen heischt. Als Chor singen sie nun alle zusammen zum Abschluss dieser Eröffnung kirchentagsbeseelte Zeilen wie „We channel these forces into the world“ und suggerieren dem stehenden Publikum (die Bestuhlung wurde als Teil der Aktion weggeschafft), es sei nun Teil dieses wunderbaren Ganzen. Ganz wie es das neue Zauberwort von der Immersion verspricht.
Austreibung der Castorf-Ära
Der belgische Museumsmann und studierte Theaterwissenschaftler Chris Dercon platzierte Sehgal als Überraschungscoup zur forcierten Austreibung der Castorf-Ära am Rosa-Luxemburg-Platz, der als Namenszusatz des Theaters selbstverständlich als einer der ersten Kunststreiche der neuen Führung eliminiert wurde. Sehgal war also zuständig, das ganze Haus irgendwie zu rocken für die große Neuanfangsgeste.
Da wurde das Flackern der Hauslichter als „Lichtchoreografie“ zum Einlass verkauft und der Kronleuchter im Saal ein Stück heruntergelassen, nachdem ein paar konstruktivistische Lichtbalken über die Bühne und an den Wänden zuckten. Danach gab es weitere Sehgal-Arbeiten zu besichtigen, die aus der Kontemplation von Museumsräumen in ein vermeintliches Theaterspektakel gefeuert wurden und dort entsprechend sang- und klanglos verbrannten. Falls demnächst in Kritikerumfragen die Kategorie der ehrgeizigsten Selbstbeschädigung eingeführt wird, wäre Tino Sehgal vielleicht ein Kandidat.
Das Kernprogramm auf der großen Bühne blieb davon unberührt. Dort hat der Beckett bei seinen deutschen Inszenierungen einst assistierende Walter Asmus drei kürzere Stücke zum Thema Stimme mit hoher Präzision aufgeführt. Mit dem auf einen Mund reduzierten Monolog Nicht ich und dem einst fürs Fernsehen geschriebenen Stück He, Joe könnte man diskutieren, ob Samuel Beckett als Dramatiker vor fast 50 Jahren nicht schon selbst auf die kommende Performance-Kunst zugegangen sei. Laut Dercon-Programmiersprache handelt es sich bei dieser Aufführung – wohl in Analogie zu ähnlichen Projekten im Tanz – um eine „Rekonstruktion“. Allerdings gibt es gar keine historischen Inszenierungen dazu, die hier forschend nachgestellt würden. Allenfalls hat Asmus jeweils Teile des Trios schon in London und Kopenhagen inszeniert. Woran man noch einmal Dercons berufliche Verankerung erkennt, denn in der Kunst ist das Theoriegepuste schon immer ein bisschen heißer als im Theater gewesen.
Anne Tismers Mund und Stimme sind der Höhepunkt, radikal auch wegen der Setzung in dem vollkommen abgedunkelten Riesenraum. Allerdings um den Preis, dass etwas weiter hinten die bewegten Lippen nur noch wie ein roter Schmetterling aussehen und von noch ferner wie ein Lämpchen. Für den zweiten Teil, die nicht gar so selten gespielten Tritte, ließ Asmus die externe Mutter-Stimme von Tismer verstellt mitsprechen. Das ist für Beckett-Experimente schon allerhand. Morten Grunwald lässt in dem hier für eine große Bühne mit Filmprojektion eingerichteten He, Joe nur sein Gesicht sprechen: Eine weibliche Stimme quält ihn mit Schuldgefühlen. Da stimmt so sogar einmal das Format für die Volksbühne, und unter der Hand darf sich hier in Gestalt des Schauspielers eine ostdeutsche Kultfigur in beckettscher Schwundstufe einschmuggeln. Grunwald war der junggesellige Benny der Olsenbande, deren minutiös ausgeklügelte Einbruchspläne Globalisierungskritik und Europa-Skepsis vorwegnahmen. Benny begeisterte sich für den wie eine Beckett-Aufführung präzise entworfenen Coup stets mit dem Ausruf „Mächtig gewaltig!“, bis am Ende wegen eines kleinen Details alles schiefging. Bei dieser Eröffnung hängt vieles wegen fast aller Details mächtig schief.
Eines der vorfabrizierten Erweckungserlebnisse, das dem Berichterstatter von einem jungen Performer mit weit aufgerissenen Augen gebeichtet wurde, handelte von einem Mann, der endlich seine Richtung in der Landschaft gefunden hat. Nach Süden – und er war glücklich. Südlich der Volksbühne liegt der Flughafen Berlin Brandenburg. Der Plan Beckett/Sehgal ist nicht aufgegangen.
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