Die Kinos, die Ausstellungen und, ja, auch die Theater können ihr Publikum fast nur noch online kanalisieren. Das ist ungewohnt und vielen lästig. Aber noch etwas anderes zeigt sich in diesen Tagen. Trotz der langen Pause sind die Angebote durchaus keine Selbstläufer. Die Verabredung mit dem Publikum wird neu getroffen. Und nirgendwo sonst als im Theater ist diese spezielle Beziehung gleich auch Gegenstand der ganzen Veranstaltung. Live und unmittelbar.
Da konnte René Pollesch mit seiner Spielzeiteröffnung am Deutschen Theater besonderer Aufmerksamkeit sicher sein. Denn in seinem Theater werden dessen Grundlagen nicht nur mitreflektiert, sondern oft auch Gegenstand des Sprech-Handelns der Schauspieler selbst. Zwar hatte der künftige Intendant der Berliner Volksbühne in Interviews vorab erklärt, die neuen Corona-Konventionen würden seine Arbeit kaum einschränken, da körperliche Nähe und hysterische Schrei-Arien (mit denen Pollesch vor rund zwanzig Jahren berühmt wurde) keine Rolle spielten. Aber was würde nun passieren im Großen Haus des Deutschen Theaters, für ganze 149 Plätze jede zweite Reihe ausgebaut und etliche Stühle mit farblich abgestimmter Bespannung zum Sitzen unbrauchbar gemacht?
Genau diese Ausdünnung des Publikums ist gleich der erste Bezugspunkt, wenn noch vor Beginn der Vorstellung auf der Bühne über einer Brecht-Gardine geloopte Bilder aus John Cassavetes’ Film Opening Night aus dem Jahr 1977 zu sehen sind: In eng besetzten Reihen ein Riesen-Auditorium, das erwartungsvoll tuschelnd die Köpfe zusammensteckt und so flimmerndes Theaterfieber mit dem Säbeltanz als dazu eingespielter Musik verbreitet. Im Parkett sind indes die meisten auf ihren kleinen Sitzinseln damit beschäftigt, sich von der Maske zu befreien und diese griffbereit zu verstauen.
Die Brecht-Gardine weggezogen, Auftritt Kathrin Angerer mit einem Brief, der mit der Information Melissa kriegt alles nach den dramaturgischen Regeln von vor 150 Jahren eine Handlung befördern könnte, bei Pollesch natürlich einen Einstieg in ganz andere Zusammenhänge darstellt.
So viel Brecht war selten
Das Bühnenbild Nina von Mechows zeigt ein Anderthalb-Zimmer-Gebilde, dessen Tapeten-Stoff-Bespannung ein Muster aus verfremdeten Hammer-und-Sichel-Motiven aufweist. Martin Wuttke tritt weißbärtig gar in einem Nachthemd auf, das aus Seiten der sowjetischen Parteizeitung Prawda geschneidert scheint. In dieser Motivkette, die sich bald mit einer Diskussion von Helene Weigels Darstellung von Brechts Mutter und ihrer Mutter-Rolle als Intendantin des Berliner Ensemble beschäftigt, legt Pollesch die Traditionsschlingen der „postrevolutionären Depression“ aus. Obendrein greift er, wenn seine Spieler überlebensgroß gefilmt auf das Häuschen herabblicken, die von John Heartfield für eine Brecht-Inszenierung der Mutter entwickelten Projektionen auf, die unlängst in einer großen Ausstellung wiederentdeckt werden konnten. Theater nach Brecht war Pollesch immer, aber so viel Interna-gesättigte Brecht-Bezüglichkeit doch selten.
Polleschs Stücke spielen selbstbewusst in einer reinen Theaterwelt, das ermöglicht ihnen erst die Selbstuntersuchung als Theater. Der Schauwert soll dabei nicht zu kurz kommen, und das besorgen diesmal vor allem die Kostüme, mit denen Tabea Braun das Spieler-Sextett immer wieder in Salonkostümen oder im Budjonny-Look der sowjetischen Revolutionsfilme auftreten lässt: mit Pistolengürteln geraffte Pelzmäntel, dazu über stachligen Schnauzbärten mittelasiatisch anmutende Kappen und türkische Feze. Bernd Moss und Jeremy Mockridge agieren mit kostümierter Grandezza, Katrin Wichmann gibt das Stichwort, wie toll alle aussehen, so wie sich SchauspielerkollegInnen oft gegenseitig Komplimente machen. Nur Franz Beil darf auch mal mit dem ikonischen Kopftuch der Mutter Wlassowa auftreten, freilich um dann – in seinem gehackten Sprechstil – den Marxismus als Zweifel zu verkünden.
Von der Brecht-Mutter-Welt über Woody Allens Schmalspurganoven auf das Feld der jetzigen Spielsituation zu gelangen, fällt Pollesch nicht allzu schwer.
In dem Allen-Film wollen Gangster einen Tunnel in die benachbarte Bank zum Tresor graben. Da kann man leicht was verfehlen. Auf der Bühne taucht das anfangs gesehene Cassavetes-Publikum im Hintergrund wieder auf, als wäre es das echte der Vorstellung. „Wir haben in die falsche Richtung gespielt!“ Es ist der berührendste und lustigste Moment, diese Ineinssetzung von Filmhandlung und Theaterverwirrung.
Anschließend thematisiert Pollesch ein „Theater der Trance“, und hier fängt die Inszenierung wirklich an, über dem Publikum zu schweben: „Wir müssen an die Trance ran. Wir sind doch Revolutionäre“, fordert Martin Wuttke. Tatsächlich wirkt die bereits 60 Minuten laufende Aufführung wie unter Trance. Oder ist das die eigene Wahrnehmung als irgendwie nicht voll eingeschaltete Theateraufmerksamkeit? Jedenfalls gibt es eine Glocke wie bei den gedämpften Fußballspielen in leeren Stadien. Die Entsprechung im Theater ist der fehlende Resonanzraum. Es gibt dankbare Lacher für die nicht wenigen Pointen, aber diese vereinzelte Reaktion kann sich kaum zu anderen aufbauen und mit anderen verbunden ihren Wärmestrom zur Bühne zurücksenden.
Hier schließt sich der Kreis zu den Bildern des Films mit Gena Rowlands, deren Figur der Myrtle Gordon sich mit Bangen der Opening Night entgegentrinkt. In dem Film geht es um das Problem der alternden Schauspielerin, bei Pollesch aktuell um die Erneuerung der Beziehung zum Publikum. Diese folgt, daran lässt der Autor-Regisseur trotz aller revolutionären Trance keinen Zweifel, alten Regeln. Die jetzt aber nicht mehr voll zur Geltung kommen können. Und genau das in seinen Feinheiten zu erleben, in diesem gestörten Zusammenspiel zwischen Bühne und zwangsgeleerten Reihen, das ist der eigentliche Sinn und das Erlebnis dieses Abends. Das Theater versucht seine Not auszugleichen, indem es Melissa kriegt alles in den nächsten Wochen so oft wie möglich auf den Spielplan setzt.
Melissa kriegt alles René Pollesch Deutsches Theater Berlin, bis 22.09.2020
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