Short & Gun

Grossbritannien Rebellion gegen Tony Blair und das Establishment

Zwei Frauen sorgen mit ihren Verstößen gegen den Official Secrets Act - das nationale Geheimdienstgesetz - in der Öffentlichkeit Britanniens für Furore. Claire Short, Ex-Ministerin im Kabinett Blair, wirft "Tony", wie sie den Premierminister herablassend nennt, nach ihrer ostentativen Demission im Vorjahr erneut einen beachtlichen Knüppel zwischen die Beine. Sie hat die kalkulierte Indiskretion begangen, sich in einem Live-Interview zu erinnern, Protokolle einer Abhöraktion gegen den UN-Generalsekretär gelesen zu haben. Die andere - Katherine Gun - treibt durch die Schlagzeilen, weil bekannt wurde, dass sie als Übersetzerin im britischen Abhörzentrum GCHQ eine geheime E-Mail über das Abhören von Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats durch den US-Geheimdienst an eine Sonntagszeitung weitergeleitet hatte.

Katherine Guns Habitus ist ganz der einer durchschnittlichen englischen Mittelklassefrau: Public School erzogen, vornehmer Akzent, noch nicht einmal sehr politisch. Sehr sicher, very british. Früher - noch unter Margret Thatcher - wäre Gun als Verräterin durch die Boulevardpresse geschleift und auf offener Straße angepöbelt worden. Und heute? Natürlich sind die konservativen, staatstragenden Blätter besorgt um die "nationale Sicherheit": Was würde geschehen, wenn alle so handelten? Und doch befällt sie eine merkwürdige Beißhemmung dieser mutigen und so provozierend normalen Übersetzerin gegenüber. Die BBC feiert die Gesetzesbrecherin gar. Und das im Institutionen verhafteten Vereinigten Königreich?

Zuverlässiger Seismograph ist wie immer das Verhalten der schweigenden Mehrheit. Bis Anfang 2003 konnte sich Tony Blair deren Akzeptanz relativ sicher sein. Auch bei seiner Irak-Politik operierte der Premierminister zunächst noch in der Annahme, die "Mitte" verlange und erwarte von ihm, sich in den Dienst von Präsident Bush zu stellen. Eine Fehlkalkulation, wie sich zeigen sollte - das Resultat mangelnder Feinnervigkeit New Labours: Es war für die Mandelsons, Campbells und Blairs undenkbar, eine Mehrheit ihrer Landsleute könnte auch von konservativer Außenpolitik die Nase voll haben, dass sie den pazifistischen Widerstand in den eigenen Reihen als letztes Gefecht einer moribunden Linken missdeuteten. Eine Million Menschen auf Londons Straßen am 15. Februar 2003 signalisierten dann allerdings einem sichtlich schockierten Blair, dass der Zeitgeist klar links von ihm stand und auch heute noch dort steht, trotz aller Überzeugungs- und Manipulationsgebaren.

Im Gegenteil: Blairs Versuche, die Instanzen der britischen Demokratie für das Überleben seiner Regierung in Anspruch zu nehmen, bringen im Augenblick immer mehr Briten gegen ihn auf - bis zu 58 Prozent geben in Umfragen an, Blair habe in der einen oder anderen Frage zum Irak gelogen. Der reagiert mit einer legalistischen Argumentation und warnt die bürgerliche Mitte davor, dem Staat an die Fundamente zu gehen: Der Bericht von Lord Hutton spreche ihn doch in ausnahmslos allen Punkten frei (aber Hutton war von Blair selbst zum Lordrichter ernannt worden). Das Abhören der Telefone von Kofi Annan dürfe nicht diskutiert werden, das verstoße gegen das Geheimdienstgesetz. Das Gutachten von Lord Goldsmith (des höchsten englischen Justizbeamten) zur Legalität des Angriffs auf den Irak dürfe nicht veröffentlicht werden, denn Derartiges werde "nach geltender Konvention" nie veröffentlicht. Doch Thatchers bleierne achtziger Jahre sind vorbei, konservativ staatstragende Affekte scheinen derzeit schwer abrufbar.

Der Abscheu gegenüber Blairs Manipulationen vereint die Mitte der Gesellschaft mit der traditionellen Skepsis gegenüber einem zu mächtigen Staat: Kann man einen solchen Regierungschef, dem es immer unverhüllter um eigenen Machterhalt geht, noch kontrollieren? - fragen inzwischen selbst Kolumnisten konservativer Blätter, auch wenn sie Blair in der Irak-Frage weiter beistehen.

Das mutige Missachten offizieller Verbotsschilder durch Katherine Gun und Claire Short wirkt in dieser Situation wie ein Katalysator. Bei vielen Briten reift die Erkenntnis, nicht nur das Geheimdienstgesetz, das die beiden Frauen brachen, auch die Institutionen des Staates - von den Geheimdiensten über die Lordrichter bis zu den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen - werden von Tony Blair missbraucht, um Verstöße seiner Regierung gegen Recht und Gesetz zu deckeln. Die Rebellion von Short und Gun gilt nicht als Tabubruch, sie gewinnt an Zuspruch.


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