Nach den größten Demonstrationen der britischen Geschichte, die im Februar Millionen gegen den drohenden Irak-Krieg auf die Straßen zogen, schien drei Monate später alles wieder vorbei - die Politik hatte zu ihrer gewohnten Arena, dem Fernsehtalk, zurückgefunden, die so üblichen wie virulenten alltagsnahen Themen beherrschten die Frontseiten der Zeitungen, aus dem Irak-Krieg war die Irak-Affäre geworden. In der Downing Street begann man aufzuatmen und freute sich der Huldigungen und Hymnen, in deren Refrain stets eine "Führerfigur" namens Blair besungen wurde.
Nur hatten die Mentoren der Neuen Weltordnung eines nicht bedacht - der Irak-Krieg erlebt sein blutiges Nachspiel und bringt sich dadurch in Erinnerung. Es gibt die unerbittliche Kadenz von
nz von Überfällen einer wendigen Stadt-Guerilla, denen inzwischen fast täglich Soldaten der Besatzungsmächte zum Opfer fallen. Die sechs britischen Militärpolizisten, die in der vergangenen Woche in Amara erschossen wurden, brachten in London schlagartig zu Bewusstsein, in welches Abenteuer die Briten verstrickt sind - und welche Grenzen eigener Macht gezogen sein können. Die auf Sturheit bedachten Argumentationen der Premierministers in Sachen Kriegsbegründung und die unerbittliche Abwesenheit auch nur von Spuren der biologischen und chemischen Waffen des Irak entzücken nicht gerade eine durch die Februar-Proteste und den Kriegsverlauf sensibilisierte Labour-Basis. Sie trug nicht wenig dazu bei, dass dazu eine Untersuchung des außenpolitischen Ausschusses im Unterhaus stattfand. Wurde der Regierungschef befragt, glänzte er nicht wie üblich, sondern achtete darauf, keine Frage nach der Irak-Politik seines Kabinetts und dem Verbleib der Massenvernichtungswaffen wirklich zu beantworten. Blair gab sich arrogant und ungerührt. Er stünde zu allen von seiner Regierung getroffenen Aussagen: Auch wenn man sie (noch) nicht gefunden habe, seien die Arsenale Saddams "eine unmittelbare Bedrohung" gewesen. Er bleibe bei dieser Aussage "vollkommen und zu 100 Prozent". Dieser Ausdruck wird zwischenzeitlich von den Briten als geflügeltes Wort kolportiert, wenn etwas völlig Absurdes behauptet wird. Tony Blair hatte im September 2002 mit feierlichem Ernst beschworen, der irakische Diktator könne innerhalb von 45 Minuten chemische Angriffe auf die Nachbarstaaten auslösen. Auch die britischen Militärbasen auf Zypern seien gefährdet, ergänzte sein Pressewesir Alastair Campbell. Wo aber sind dann die Startrampen, die ballistischen Träger, wo die Kampfstoffe? - fragte der Untersuchungsausschuss und kritisierte in seinem Abschlussbericht die Regierung für den unangemessenen und zu offensiven Umgang mit vermeintlichen Geheimdienstinformationen. Blair habe das Dossiers "falsch dargestellt", auch wenn man nicht von einer bewussten Irreführung des Parlaments sprechen könne. Blairs Bedrohungssermon klang seinerzeit so surreal, dass sich die Geheimdienste zu einer inoffiziellen Erklärung des MI6 veranlasst sahen, man komme als Quelle dieser Angaben nicht in Betracht. Die Dienste warfen Campbell vor, die Regierungsdossiers über die "irakische Bedrohung" dramatisiert zu haben. Die Bombe platzte endgültig, als sich Campbell und Außenminister Jack Straw vor der Enquete-Kommission widersprachen. Während ersterer dabei blieb, das 45-Minuten-Argument stamme klar aus Geheimquellen, meinte Straw, diese Erkenntnis sei "erst später ans Licht gekommen" und deshalb nicht in der ersten Fassung des Geheimdienstreports enthalten gewesen. Also doch ausgedacht und nachträglich eingefügt?Andrew Gilligan, ein in dieser Angelegenheit engagierter Journalist der BBC-Hörfunksendung Today, sprach als erster im Vereinigten Königreich offen aus, was viele dachten: Die Regierung hat Berichte in der Absicht manipuliert, die alles entscheidende Abstimmung über Krieg und Frieden im Unterhaus unbedingt zu gewinnen und damit den Bestand der Labour-Regierung zu garantieren. Ob man für den Krieg war oder nicht - allein der naheliegende Verdacht, dass Blair das Unterhaus in einer so gravierenden nationalen Frage belogen haben könnte, ist für die Mehrheit der Briten ein Verstoß gegen die geheiligten Regeln ihrer Demokratie. Gilligan will nun - mit dem ausdrücklichen Plazet der BBC - gegen den stellvertretenden Unterhausminister Woolas wegen Verleumdung klagen, der ihn der Irreführung des außenpolitischen Ausschusses beschuldigt hatte. Sollte es dazu kommen, hieße das: Ob die Regierung gelogen hat oder nicht, könnte schließlich in einem Prozess festgestellt werden! Das erste Mal, dass sich BBC und Regierung offen an die Kehle gehen. Der Punkt ist nicht so sehr eine Klage Gilligans, sondern die öffentliche Meinung, die aus ihrer Empörung über die Manipulationen der PR-Maschinerie Blairs kein Hehl mehr macht und das auch ausspricht. Dem betuchten Mittelklasse-Wähler kann das nicht entgehen. So hat der politische Streit um eine mögliche Kriegslüge mehr als nur einen Stein ins Rollen gebracht. Die Umfragewerte für Blair sinken rapide.