Dreißig Jahre nach der „Herbstrevolution“ in der DDR hat zweifellos ein neuer kleiner Historikerstreit begonnen: Auf der einen Seite die, welche wie der Soziologe Detlef Pollack nicht etwa der „rauschebärtigen Opposition“, sondern nun allein den sich im Herbst 1989 selbst ermächtigenden „schnauzbärtigen Massendemonstranten“ das revolutionäre Prädikat zubilligen. Auf der anderen Seite unter anderem der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, der darauf besteht, dass die oppositionelle Minderheit – wie in jeder Revolution – die Massen mobilisierte. Diese Kontroverse löst den Streit der 1990er ab zwischen denen, die den DDR-„Ausreisern“ das entscheidende Druckpotenzial der Revolte zuschrieben, und jenen, die das Ende der DDR als systemimmanenten „Kollaps“ eines maroden ökonomisch-politischen Systems diagnostizierten. Vonstatten geht dieser Streit vor den Kulissen einer hegemonial befeuerten und auf mediale Überwältigung zielenden Feier der „Wiedervereinigung“ als eigentlichem Sinn der Herbstrevolution von 1989. Die wirklich revolutionären Momente des Aufbruchs in der DDR spielen in der öffentlichen Wahrnehmung keine große Rolle – sind sie doch mit den sozialistischen Attributen der mit der SED abrechnenden Großdemo vom 4. November auf dem Alexanderplatz verknüpft (der Freitag 44/2019). Selbst dem rechtslastigen Extremismusforscher Eckhard Jesse fiel endlich im August 1989 missmutig ins Auge, dass „ein antikapitalistisches, nicht auf die Einheit bezogenes Grundverständnis fast alle Dissidenten auszeichnete“.
Doch wie hängt das alles zusammen? Lohnenswert ist es, ins Jahr 1988 zurückzublicken: Für den 17. Januar 1988 planten zahlreiche Ausreisewillige, und daneben einige Oppositionelle, bei der traditionell-staatlichen Liebknecht-Luxemburg-Demonstration aufzutreten. Ein Affront für die Staatsmacht und eine Gelegenheit für die Systemwächter, die Glaubwürdigkeit des Kampfes der oppositionellen Gruppen für politischen Wandel zu diskreditieren.
Missbrauch der Solidarität
Also reagierte der Staat mit einer Verhaftungswelle, auch zulasten weiterer namhafter Oppositioneller. Dies verursachte eine republikweite, dann internationale Solidaritätskampagne für die sofortige Entlassung der Oppositionellen – in die DDR. Die verhafteten Ausreisewilligen wurden umgehend in den Westen, dem Ziel ihres Begehrens, abgeschoben. Die bleibewilligen Oppositionellen wollte die Staatsmacht ebenfalls gen Westen tricksen, indem sie eine „freiwillige“ Ausreise anstatt womöglich langer Haft in Aussicht stellte.
Die Solidaritätsgottesdienste für die inhaftierten Oppositionellen wurden bald massenhaft von Antragstellern missbraucht, die dort lautstark ihre Ausreise forderten. In Berlin hatten sie sich unter dem Dach der oppositionellen Umweltbibliothek als „Staatsbürgerrechtsgruppe“ organisiert. Nun aber, in Reaktion auf den Missbrauch, trennte sich die Umweltbibliothek von dieser Gruppe und versagte ihr die weitere Nutzung ihrer Räume. Hier wurde er sichtbarer als je zuvor: der Widerspruch zwischen Gruppen, die ihre oppositionelle Arbeit in den Dienst der Beseitigung gesellschaftlicher Missstände stellten – und denen, die diese Gruppen für ihr Ausreisebegehren instrumentalisierten.
Als nun auch noch die verhafteten Oppositionellen zeitweise oder dauerhaft die DDR Richtung Westen verließen – ganz den staatlichen Absichten entsprechend –, erlosch resignierend die Protestwelle. Und dies, nachdem die Opposition nun schon zum zweiten Mal nach dem 1987 gescheiterten Stasi-Überfall auf die Umweltbibliothek ihre Isolation von der Mehrheitsbevölkerung hatte durchbrechen können. Im Samisdat des Friedenskreises Friedrichsfelde hieß es anklagend: „Sind es nur Lippenbekenntnisse, wenn wir sagen, dass die Friedens- und Umweltproblematik nicht mehr staatlich-national, sondern global zu lösen ist? Meinen wir es ernst, wenn wir den Hunger in der Zweidrittel-Welt beklagen, unsere Solidarität (den) Befreiungs- und Alternativbewegungen in Ost und West, Nord und Süd bekunden, oder ist für uns Westeuropa das bessere Europa (vielleicht mit Ausnahme der Türkei), weil die Menschenrechte dort angeblich mehr gewährleistet sind als hier? Einer der Inhaftierten nach dem anderen ging, dahin, wohin ihn die Oberen haben wollten.“
Freya Klier, aus der Untersuchungshaft dauerhaft in den Westen ausgereist, verteidigte sich von dort postwendend: „Die Lähmung eurer Gruppen resultiert doch nicht aus den Januar-Ereignissen, sondern aus … der zunehmenden Abgrenzung gegenüber jenen Menschen im Land, die fester und komplizierter als ihr in die DDR-Gesellschaft eingebunden sind.“ Und weiter: „Ihr erreicht diese Menschen gar nicht. Die meisten Unzufriedenen in der DDR sehen nicht in euren Gruppen eine Alternative zu ihrem bisherigen Leben, sondern … in einer Ausreise aus der DDR.“
Hier manifestierte sich erstmals überdeutlich die mehrfache Isolation der kleinen oppositionellen Gruppen – einerseits herrschaftsseitig von der Mehrheitsbevölkerung abgeschottet und verfolgt, andererseits von den Ausreisern als Plattform für den Absprung in den Westen instrumentalisiert. Doch entgegen Freya Kliers Behauptung war unter den Unzufriedenen in der DDR die große Zahl der Ausreiser selbst eine Minderheit, die aber die aktiven Oppositionellen zahlenmäßig weit überwog. Und die Präferenzen der Mehrheit der unzufriedenen „Hierbleiber“ unterschieden sich merklich von den Zielpräferenzen der Opposition, wie sich bald zeigen sollte.
Was hat man diesen politischen Gruppen der 80er-Jahre-Opposition und den neuen politischen Vereinigungen der Herbstes 1989 nicht alles schon an Attributen aufgenötigt: Mal als „Revolutionshelden“ gefeiert, dann retrospektiv als von „sozialistischen Flausen“ kontaminiert belächelt. Von den einen nur als „dissident“ anerkannt wegen ihrer Reserviertheit gegenüber dem bürgerlichen Demokratismus, der nach Meinung der Kritiker als einziger Zielhorizont sie als „Opposition“ qualifiziert hätte (Martin Jander, Christian Joppke) – von anderen „gerechtfertigt“, indem im Nachhinein die demokratisch-sozialistische Substanz ihrer Forderungen geleugnet oder banalisiert wurde (Gerd Poppe, Wolfgang Templin, Kowalczuk).
Das Menetekel von 1988 entschlüsselt weitgehend die Springpunkte der Entmachtung eines souveränen oppositionellen „Dritten Wegs“ jenseits von Stalinismus und Kapitalismus in der DDR:
Zweifellos einte die Massendemonstranten des September und Oktober 1989 und die sich in neuen politischen Vereinigungen organisierende kleine Opposition ihre Gegnerschaft zum SED-Regime. Jene Opposition hatte im Prozess ihrer Politisierung und Vernetzung der 80er Jahre ihren Anspruch auf gesellschaftliche Gestaltungsteilhabe immer besser formulieren können. Sie wurde so innerhalb eines kurzen Zeitfensters zum Schrittmacher der Massenempörung. Diese kurze Verbindung der öffentliche Räume erobernden politischen Opposition mit den protestierenden Teilen der Bevölkerung erwies sich trotzdem bald als nur äußerlich, da sich hier ganz verschiedene Präferenzen ausdrückten: Die oppositionellen Präferenzen der 80er-Jahre-Gruppen waren die Herstellung von Presse-, Versammlungs- und Organisationsfreiheit innerhalb eines Prozesses umfassender Demokratisierung und Ökologisierung sowie die Solidarität mit der Zweidrittel-Welt. In der Mehrheitsbevölkerung hatten Versorgungssicherheit und Reisefreiheit den Vorrang. Die Opposition traf auf die Fernwirkungen des herrschaftstechnisch von Erich Honeckers Politbürokratie bis in die 1980er hinein erfolgreichen entpolitisierenden „Sozialvertrags“: Wohlstandszuwachs und eingehegte Freiräume gegen politisches Wohlverhalten. Die „Kündigung“ dieses Sozialvertrags durch die Bevölkerung erfolgte nicht auf Grundlage politischer Forderungen des oppositionellen Basisgruppenmilieus, sondern wegen der Unfähigkeit der Herrschenden, ihre materiellen Verheißungen umzusetzen.
Anfang Oktober 1989 war in der DDR das Demonstrieren im Angesicht prügelnder Polizei und Stasi-Greiftrupps noch recht gefährlich. Die herbstrevolutionären Demonstranten riefen den vermehrt hinzuströmenden Ausreisewilligen und deren Losung „Wir wollen raus!“ ihr „Wir bleiben hier!“ entgegen. Dies war nicht allein Ausdruck ihrer Entschlossenheit, die DDR zu revolutionieren, sondern auch eine Drohung an die SED-Bürokraten, die Opposition nicht mehr nachhaltig in den Westen „entsorgen“ zu können. Doch bereits Mitte November 1989, als das Demonstrieren ungefährlich geworden war, begannen sich die Zusammensetzung und die Losungen der Massendemonstrationen merklich zu ändern: Erste patriotisch-nationalistische Losungen und rassistische Hassparolen waren zu hören. Mit dem Versagen der Bürgerbewegungen, ihrer opportunistischen „Wende in der Wende“ und dem verhängnisvollen Taktieren der Modrow-Regierung wurde die Wiedervereinigung zu den Bedingungen des Westens sichtbar unaufhaltsam. Nun reiste ein ganzes Land in den Westen aus.
Weder die lange doppelte Isolation der politisch-alternativen Gruppe n der 80er Jahre von der Mehrheitsbevölkerung noch die „Entmachtung eines Dritten Wegs“ waren je Gegenstand ernsthafter zeitgeschichtlicher Forschung. Die heutigen Deutungskontroversen der Hofhistoriker beschränken sich vornehmlich auf die selektive Deduktion ihrer Geschichtsbilder. Hauptsächlich konkurrieren sie um die passfähigste Affirmation der sperrigen Herbstrevolution in das Bild der „Wiedervereinigung“ als ihrem eigentlichen Sinn.
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Dieser Beitrag ist Teil unserer Wende-Serie 1989 – Jetzt!
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