Das Geheimnis des Alters

Bulgarien Auf der Suche nach den Hundertjährigen - eine rhodopische Recherche

"Du brauchst Monate, viel Geduld und die Fähigkeit zuzuhören, wenn du unsere Hundertjährigen treffen willst", entmutigte mich Ekatarina Tomowa, Bulgariens namhafteste Dichterin. 1981 veröffentlichte sie ein erstaunliches Buch mit dem Titel Die vom Himmel Vergessenen, in dem sie zehn Hundertjährige aus den Rhodopen porträtierte. Ein Jahr lang war sie durch Bergdörfer nahe der griechischen Grenze gereist und mit einem Manuskript von 1.000 Seiten nach Sofia zurückgekehrt. Erst durch die Intervention von Toschko, dem damaligen Partei- und Regierungschef Todor Schiwkow, durfte das dünne Bändchen erscheinen.

Vor einigen Jahren erhielt ich das letzte Exemplar der deutschen Ausgabe vom Lektorat des KiWi-Verlages. Seitdem zog es mich dorthin, wo ich mit 18 Jahren das erste und letzte Mal wanderte. Hundertjährige traf ich damals nicht, nur Grenzpolizisten, Schmetterlingssammler und Pomaken - bulgarische Bauern, die auf den Feldern der sozialistischen Kooperativen mit dem Gesicht gen Mekka zu Allah beteten. Dank Ekatarina Tomowa wusste ich, dass in den Pomaken-Dörfern der Rhodopen die meisten Hundertjährigen wohnen. Ihnen zu begegnen, sei schwierig, hieß es, weil sie als religiöse Minderheit sehr zurückgezogen lebten.

Das reizte mich um so mehr, so fuhr ich Ende Oktober mit Kamera, Notizbuch, Winterkleidung und gedämpfter Erwartung in die Rhodopen, aus denen der antike Sänger Orpheus stammt.

Die erste Überraschung: ein Spätherbst mit sommerlichen Temperaturen, der beim Wandern den Schweiß ins Gesicht trieb, und die Farben der Region Tschernatica (Schwarzwald), die mit ihrem Goldgelb an Kanada erinnerte. Doch nicht die hundertjährigen Buchen, Eichen, Fichten interessierten mich, sondern die Menschen in den einsamen Bergdörfern und die Frage, warum sie hier alt wie Methusalem werden. Namhafte Gerontologen meinen, es läge am Ziegenjoghurt, der in dieser Gegend viel gesünder, weil weniger umweltbelastet als in Griechenland oder anderswo sei. Auch das mineralhaltige Wasser aus uralten Quellen täte das seine, die reine Luft nicht minder. In Sofia hatte ich mir die Zähne mit Leitungswasser geputzt und mich elend gefühlt vom vielen Chlor. Im Dorf Orehovo schmeckte das Wasser aus der Karaffe meines Gästezimmers noch nach Tagen frisch, und die Zähne schmerzten vor eisiger Kälte.

Aus den Brunnen links und rechts meiner Wanderwege gluckerte das Quellwasser mit einem hellen Klang, der sich mit dem Rauschen der Bäume zu einer Musik wie aus Orpheus und Eurydike von Gluck vermischte. Ich kam an den Zugängen zu kilometerlangen Höhlen vorbei, in denen einst die Bauern ihre Töchter vor den Türken versteckten. In einem solchen Refugium starben vor über 400 Jahren alle Frauen eines Dorfes, als die osmanischen Eroberer Feuer legten. Bis heute werden die Türken deswegen gehasst.

In einem der drei Dorfläden von Orehovo war der Kaffeeautomat kaputt. Der Besitzer, ein Bulgare, der den Potsdamer Platz mitgebaut hatte, fluchte über das türkische Fabrikat. "Mafia!", schimpfte er. Die Alten sahen die Sache objektiver. "Die Türken haben die Rhodopen nie ganz erobert, weil sie sich vor den dunklen Wäldern fürchteten", klärte mich eine 75-jährige Frau auf, die wie 65 aussah und überhaupt viel zu jung für mich war. Wo waren die Hundertjährigen? In Orehovo gab es derzeit keine, die älteste Bewohnerin starb im letzten Winter mit 101 Jahren. Aber über Neunzigjährige gäbe es, hörte ich. Also ging ich zu den fast 100-Jährigen. Einer davon wohnte meinem Gästehaus gegenüber, das wie ein Bienenstock am Steilhang der dritten Straße überm Tal hing.

Angel Stojanow, ein kräftiger Bulgare von 95 Jahren, führte mich die hohen Stufen zu seinem Haus hinauf und kochte Tee aus 20 Kräutern der Umgebung. An der Wand seiner Küche hing ein Artikel der Lokalzeitung: Hundertjähriger fährt noch Motorrad. Mit zitternden Händen reichte mir Angel den Tee und sagte: "Ich bezahle dafür, dass du mein Leben aufschreibst." Ich fragte, womit er mich denn bezahlen wolle bei 80 Lewa (40 Euro) Rente. Angel öffnete ein Glas mit Honig, tauchte den Löffel ein und führte ihn zu meinem offenen Mund. Weil er den nicht traf, rief er: "Halt doch mal still!" Die Kostprobe überzeugte mich, für drei Gläser Fichtenhonig hörte ich ihm gern zu. Angel erzählte sein Leben mit klaren Worten und derbem Bauernwitz wie einen Roman von Ivan Wasow. Obwohl er etliche Jahre im Uranbergwerk nahe Chepelare arbeitete, war er nie krank. Nur der verdammte Parkinson plagte ihn seit kurzem. Medikamente bekäme er nicht, weil es für die sehr Alten keine Krankenversicherung gäbe. Wenn er zum Arzt gehe, koste das unter Umständen zwei Monatsrenten.

Da er mehrfacher Aktivist war, fragte ich Angel, was er von vergangener und heutiger Politik halte. "Die Kommunisten sind faul, und die Nationalisten sind dumm", lautete die Antwort. Seine Frau hatte Angel vor sechs Jahren auf dem Friedhof jenseits des Tals begraben. In die Kirche ging er nicht mehr, weil der Pope nur einmal im Monat erschien und es dann meistens regnete.

Ich wanderte weiter und besuchte im Ortsteil Pavelsko des auf sieben Hügeln erbauten Dorfes Hvoina Jordanka Toschewa. Sie war 94 und wohnte allein in einem der ältesten Bauernhäuser der Gegend gegenüber dem Club der Pensionäre. Sie führte mich durch einen blühenden Garten voller Ringelblumen, Tomaten und Zucchini ins Haus und geradewegs in die Küche. Dort stand ein prachtvoller Webstuhl, wie ich ihn nur aus Museen kannte. Sie sei die letzte Weberin weit und breit, erklärte mir Jordanka und setzte die Arbeit an einer großen Schafs-Wolldecke fort. Bis zu einem Jahr brauche sie für ein solches Stück, dass auf dem Markt in Sofia vielleicht 1.000 Lewa bringe. Doch sie webe nicht täglich acht Stunden, um zu verkaufen, sondern aus Liebe zur Arbeit und aus Langeweile. Mit der Rente von 150 Lewa und von ihrem Garten könne sie leben. Vor ein paar Jahren hatte sie noch Ziegen und Schafe, und die Tochter aus Plowdiw half ihr am Wochenende, doch nach zwei Herzinfarkten sei sie nun mit 76 zu schwach für die Landarbeit.

Überall in den Dörfern der Tschernatica klebten Zettel für längst oder unlängst Verstorbene, darunter auffallend viele Junge, an Wänden und Telefonmasten. Ich fragte Baba Jordanka, warum die Alten in den Rhodopen so alt werden, die Jungen aber nicht. "Das Leben in der Stadt ist ungesund, zu schnell und zu laut", bekam ich zur Antwort.

Das Dorf Sokolovtsi war meine nächste Station. Hier, im tiefsten Tal der Rhodopen, begegnete ich Maria Stilanova, der Partisanin. Ihr Haus am Fluss Byala Reka war dunkel und kalt. Auf dem Tisch im Wohnzimmer stand ein Karton mit alten Fotos. Maria wollte sie mir nicht zeigen, vielleicht das nächste Mal. Dafür erzählte sie vom Krieg, der in den Rhodopen zunächst nicht stattfand, weil Bulgarien bis 1944 mit Hitler verbündet war. Nur die Partisanen kämpften in den Bergen einen aussichtslosen Kampf gegen die Monarchie. Maria gewährte ihnen Unterschlupf, weil sie Kommunistin war. Ihr Mann kämpfte in der Partisanen-Abteilung Anton Iwanow und fiel 1946 kurz vor Gründung der Volksrepublik, weil sich ein Schuss aus der Waffe eines Gefährten gelöst hatte. Jedenfalls sei sie heute noch Kommunistin und glaube nicht an ein Leben nach dem Tod. Der Körper geht in die Erde, die Seele fliegt mit dem Wind in die Berge, war sie überzeugt. Ich fragte sie, welche Partei sie am Sonntag bei den Kommunalwahlen wähle. Attak, antwortete sie, die bulgarischen Nationalisten. "Die jetzigen Kommunisten paktieren mit türkischen Banditen und ruinieren das Land", fluchte die 94-Jährige und zeigte mir die smarten Politiker im Fernsehen, die streikenden Lehrern mehr Gehalt versprachen, aber nicht zahlen wollten.

Maria schickte mich schließlich zu Nikola Stanchew, gleichfalls 94, der oberhalb des Flusses in einem Haus wohnte, von dem aus er das malerische Tal überblicken konnte. Stanchew kämpfte im Zweiten Weltkrieg zunächst mit den Deutschen in Ungarn, ab 1944 mit der Roten Armee und erhielt zahlreiche Kampforden. Die Partisanen aber mochte er nicht. "Sie waren Banditen und stahlen den Bauern das Vieh." Seiner Sympathie für die Partisanin Maria Stilanova tat das keinen Abbruch, "weil sie eine echte Schönheit war und stur wie ein Ochse". Ich fragte Nikola, was ihn jung halte. "Treppensteigen und Holzhacken".

Außer Atem ging ich anschließend die steilen Straßen des Bergdorfes Momchilowsi hinauf und suchte Malina Petkova, die tatsächlich hundert Jahre alt sein sollte, aber nicht zuhause war. Von der Nachbarin hörte ich, Baba Malina sei im Oberdorf bei einem Bekannten. Dort öffnete niemand. Ich suchte alle Läden im Ort ab, weiter ohne Erfolg. Eine Verkäuferin meinte scherzend, vielleicht liege sie mit Opa Atanas, ihrem Freund, im Bett. Die Sache wurde mir unheimlich, ich gab auf und fuhr in das Pomakendorf Lilekovo im Hufeisental, um dort endlich am Ziel zu sein, aber die hundertjährige Tarfia Korteva wollte mich nicht ins Haus lassen. So setzten wir uns auf eine Bank und hatten einen schwindelerregenden Blick übers Tal. Die Frau war fast blind und hörte schwer. Was sie über ihr Leben erzählte, ging auf keine Kuhhaut. Mit drei Jahren Vollwaise, mit 15 an einem Mann verkauft, ihr erstes Kind bei der Geburt verloren, ihr zweiter Mann fiel im Krieg, sie zog allein Zwillinge groß, lebt heute von 50 Lewa Rente und betreut ihre gelähmte Schwiegertochter. Um Pflegegeld für sie zu erhalten, fuhr sie nach Smolnya aufs Amt, aber die Beamtin meinte, eine Alte könne keine Jüngere pflegen. "Ich habe sie verflucht."

Was sie über den Tod denke. "Ich muss viel gesündigt haben, denn Allah nimmt mich nicht zu sich. Jetzt will ich nicht mehr in den Himmel, denn dort sehe ich alle wieder, die ich nie mehr sehen will." Zum Abschied sang sie mir ein Lied über die Schönheit der Rhodopen.

Ich werde wohl wiederkommen müssen, weil ich die Antwort auf die Frage, warum die Menschen hier so alt werden, nicht fand. Dafür viele Geschichten über das schöne, schwere Leben in den Rhodopen, die nicht vergessen sein sollen.



Bulgarien

Staatsform
Republik
(Präsident Georgi Parwanow)

Bevölkerung
Nach der Volkszählung von 1981 sind 83,9 Prozent der Bevölkerung ethnische Bulgaren; 9,4 Prozent Türken und 4,7 Prozent Roma. Kleinere ethnische Gemeinschaften bilden Armenier, Serben, Griechen, Mazedonier, Walachen sowie die größtenteils muslimischen Pomaken im Rhodopen-Gebirge. 68 Prozent leben im urbanen Raum - 32 Prozent auf dem Land.

Fläche
110.994 Quadratkilometer

BIP / Einwohner
2.779, 5 Dollar (2005)

Einwohner
7,7 Millionen (2006)

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