Euthanasie-Ausstellung in Brandenburg

Ausstellung Ausgerechnet an einem kalten Samstag im Februar ließ ich mich zu einem Ausflug nach Brandenburg überreden. Der Theaterregisseur Hannes H., sein Autor ...

Ausgerechnet an einem kalten Samstag im Februar ließ ich mich zu einem Ausflug nach Brandenburg überreden. Der Theaterregisseur Hannes H., sein Autor Christoph K., der Ausstatter David K. und die Schauspielerin Katharina S. wollten in Vorbereitung ihres Theaterprojektes Tiergartenstraße 4 die Ausstellung Landesanstalt Görden 1933-45. Psychiatrie im Nationalsozialismus besuchen. Auf dem Gelände der heutigen Hermes-Klinik erinnert ein schlichter Stein mit Kupferplatte an die Verbrechen im Namen der Volksgesundheit. Im Haus 23, einer Trutzburg mit vergitterten Fenstern und meterhohen Elektrozäunen, hinter denen heute Sexualstraftäter therapiert werden, befindet sich die Euthanasie-Ausstellung. Wir waren die einzigen Besucher und schwiegen betreten, als wir durch die weißgetünchten Räume gingen, wo das Ausmaß mörderischer Fürsorgepflicht deutscher Ärzte und Krankenschwestern dokumentiert ist. Jahrzehnte vor den Nürnberger Rassengesetzen warnte der Arzt Alfred Ploetz vor der "Armuth mit ihren ausjätenden Schrecken". Er meinte, dass humane Gefühlsduseleien wie Pflege der Kranken, Blinden, Taubstummen nur die Wirksamkeit der natürlichen Zuchtwahl behindern und forderte die Ausmerzung der so genannten "Minderwertigen". Auf einer Schautafel wird aus einem Rechenbuch der NS-Zeit zitiert: "Der jährliche Aufwand des Staates für einen Geisteskranken beträgt im Durchschnitt 766 RM, ein Tauber oder Blinder kostet 615 RM, ein Krüppel 600 RM. In geschlossenen Anstalten werden auf Staatskosten versorgt: 167.000 Geisteskranke, 8.300 Taube und Blinde, 20.600 Krüppel. Wieviel Millionen RM kosten diese Gebrechlichen jährlich?"

Bis 1945 wurden im Reich 400.000 geistig Behinderte, Erbkranke und so genannte Unangepasste zeugungs- und gebärunfähig gemacht. Mit Beginn des Krieges ging man dazu über, Geisteskranke und Depressive zu "erlösen", allein 1940/41 über 70.000 Menschen. Darunter Hunderte Kinder, die mit Luminal eingeschläfert wurden. Genaue Zahlen sind bis heute nicht zu erhalten. Der Grund liegt in der Unwilligkeit der Alliierten, die NS-Verbrechen an psychisch Kranken zu verhandeln. Nur zwei verantwortliche Ärzte des Euthanasie-Programms "T 4", benannt nach der Adresse Berlin-Tiergartenstraße 4, von wo aus man den Massenmord an Geisteskranken, später auch Trägern ansteckender Krankheiten, Obdachlosen, dubiosen Künstlerexistenzen und nicht-arischen Deutschen plante, wurden nach 1945 juristisch belangt. Dr. Ernst Illing, bis 1942 Leiter der Kinderfachabteilung in Görden, danach Chef der Wiener Heilpädagogischen Klinik "Am Spiegelgrund", wo er den Tod Hunderter Kinder verantwortete, wurde 1946 gehängt. Dr. Hans Heinze, Direktor der Landesanstalt Brandenburg-Görden, verbüßte eine siebenjährige Haftstrafe im NKWD-Lager Sachsenhausen und leitete ab 1954 eine jugendpsychiatrische Klinik in Niedersachsen. 1962 lief ein Verfahren gegen ihn wegen Beihilfe zur vorsätzlichen Tötung an 3.000 Neugeborenen und 80.000 Erwachsenen. Das Verfahren wurde 1966 wegen Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten eingestellt. Dr. Friederike Pusch, ab 1942 Leiterin der Gördener Kinderfachabteilung, arbeitete nach 1945 als Fachärztin für Psychiatrie in Blankenburg/Harz. Prof. Julius Hallervorden, Neuropathologe in Görden, starb 1965 als angesehener Hirnforscher am Max-Planck-Institut in Gießen. Einer der führenden Ärzte in Görden war später niedergelassener Psychiater in Brandenburg und als Agent des KGB vor der Strafe der DDR-Antifaschisten sicher.

Das Gras des Vergessens wächst in Brandenburg nicht höher als anderswo. Doch es ist unser Gras, auf dem die blühenden Landschaften der deutschen Einheit gedeihen. Die Kosten für Krankenpflege und Fürsorge explodieren, Hartz-IV-Empfänger werden von Politikern als Belastung des Staatshaushalts bezeichnet, Neonazis zünden Obdachlose an und brave Bürger fürchten sich vor nicht-deutschen Nachbarn. Auf der Rückfahrt nach Berlin machten wir Witze darüber, dass wohl keiner von uns fünf "Ballastexistenzen" die NS-Zeit überlebt hätte. Ein homosexueller Autor, ein unbequemer Regisseur, ein jüdischer Ausstatter, eine arbeitslose Schauspielerin und ein Journalist, der Tabletten gegen Depressionen schluckt.

Die Ausstellung in Brandenburg ist geöffnet von Montag bis Freitag 10 bis 17 Uhr sowie nach telefonischer Vereinbarung unter 03381-78-0. Das Theaterstück "T 4" wird an der Berliner Tribüne aufgeführt. Weitere Information www.tribuene-berlin.de

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