Das erste Mal traf ich Ronald "Ronnie" Biggs 1995 in einer Bar in Ipanema, wo er Touristen T-Shirts mit seinem Konterfei verkaufte und Kriminalgeschichten aus seinem Leben zum Besten gab. Er war viel unbritischer als Horst Tappert in dem deutschen Fernsehkrimi Die Gentleman bitten zur Kasse (1966) und redegewandter als Paul Freeman, der ihn in dem Hollywoodfilm Prisoner of Rio (1988) spielte. Den hatte mein polnischer Freund aus Studententagen, Lech Majewski, produziert und trotz vernichtender Kritiken gutes Geld damit verdient.
Zu der Premiere in London war Biggs aus Rio nicht angereist, weil er daheim noch 28 von 30 Jahren Zuchthaus abzusitzen hatte. Dafür war "Buster" Edwards da, der wie Biggs der Polizei entkommen war und in Mexiko lebte, bis er Heimweh bekam und sich stellte. 1978 hatte er seine Reststrafe abgesessen und verkaufte Blumen an der Waterloo Station. Auch sein Leben wurde verfilmt und brachte ihm enorme Popularität. Nach Edwards’ Selbstmord 1994 gingen 20.000 Menschen in London hinter seinem Sarg her.
Ronny war von Anfang an der Liebling der Medien unter den 18 am Großen Postraub beteiligten Ganoven. Obwohl er den genialen Coup, den königlichen Postzug zwischen Glasgow und London durch ein manipuliertes Signal anzuhalten und ohne Schusswaffen 120 Geldsäcke mit 2,63 Millionen alten Pfund (heute 30 Millionen Pfund) zu erbeuten, nicht ausgeheckt hatte, wurde der Zimmermann aus Surrey fast ein Popstar. Nach jahrelanger Flucht vor Scotland Yard rund um den Erdball mit Frau und Kindern, ließ Biggs sich in Rio de Janeiro nieder und wurde dort trotz Arbeitsverbots und polizeilicher Meldepflicht einer der angesehensten Emigranten. Von seinem Anteil an der Beute, 150.000 alte Pfund, ging ein Drittel für die Flucht aus dem Knast drauf und ein Drittel für seine Anwälte; vom Rest kaufte er sich ein heruntergekommenes Haus im Stadtteil Santa Teresa. Dort lebte Biggs unbehelligt mit der Stripperin Raimunda de Castro, seinem Rottweiler Blitz und einem Papagei, der For he’s a jolly good Fellow singen konnte zusammen.
Bis ihn 1975 Chief Detective Jack "The Ripper" Slipper auf eine britische Yacht entführen ließ. Die brasilianische Polizei hinderte das Boot am Auslaufen, weil Raimunda von Ronny schwanger war und werdende Väter laut dortigem Recht nicht ausgeliefert werden dürfen. Nach endlosem diplomatischen Gerangel kehrte Biggs als freier Mann in sein Haus zurück und liebte von da an seinen Sohn Michael mehr als jeder Vater. Biggs jr. dankte es seinem Vater, indem er als Kinderstar von Tele Globo Karriere machte und für den Unterhalt sorgte. Als es damit vorbei war, gründete Michael ein Plattenstudio und produzierte mit der Punkband Sex Pistols und seinem Vater den Song No one is innocent für das legendäre Album The Great Rock’n'Roll Swindle.
Zu seinem 62. Geburtstag nahm Biggs sen. die Single Carnival in Rio (Punk was) mit der deutschen Band Die Toten Hosen auf. Doch das Leben als krimineller Popstar kleinbürgerlichen Größenwahns blieb unsicher. Michael machte mit seiner Firma Pleite und 1981 entführten Gangster den meistgesuchten Mann Englands nach Barbados, um ihn für ein sattes Lösegeld auszuliefern. Auch diesmal retteten ihn die Brasilianischen Behörden. Ronny war finanziell und seelisch am Ende, als die Mutter seines Sohnes in die Schweiz zog. Jetzt musste er Touristen für 60 Dollar zum Dinner in sein Haus einladen. Als ich im Jahr 2000 einige Tage kostenlos bei ihm wohnen durfte, sah der Garten des Hauses trostloser aus als ein Gefängnishof. Kenny, ein einarmiger Knackie aus Ronnys Zeit im Wansworth Prison kochte für den Hausherrn, der nach dem zweiten Schlaganfall nicht mehr sprechen konnte. Die Idee, das Leben des Postzugräubers aufzuschreiben, scheiterte daran, dass er meine Fragen in selbst für Graphologen unlesbaren Sätzen zu Papier brachte.
Aus dem "jolly good Fellow" mit der Bluesstimme eines Joe Cocker war der traurigste Mensch von Rio geworden. Als ich kurz darauf in der Zeitung las, dass Biggs freiwillig nach England zurückgekehrt war, um sich in staatliche Pflege zu begeben, war mir klar, dass die Justiz Ihrer Majestät ihn aus Rache für den tollkühnen Überfall des Postzuges und seine dreiste Flucht aus der Haft niemals begnadigen würde. 2002 heiratete er im Hochsicherheitsknast Belmarsh Raimunda de Castro. 2006 verlegte man den an der Immunschwäche MRSA leidenden 77-Jährigen zwar in ein normales Gefängnis, doch die Meldungen, dass er aus Gesundheitsgründen begnadigt wird, erwiesen sich als falsch. Der für eiserne Staatsräson berüchtigte Justizminister Jack Straw lehnte im Juli 2009 ein erneutes Gnadengesuch ab. Erst, als Biggs letzte Woche wegen Pneumonie ins Krankenhaus des Norwich Penitentiary eingeliefert werden musste und die Presse seinen nahen Tod ankündigte, unterschrieb der Minister die vorzeitige Entlassung des ältesten Häftlings seit Rudolf Heß. Seinen 80.Geburtstag feiert der charismatische Gentleman-Räuber, der die reichste Frau der Welt (die Queen of England) um läppische 2,6 Millionen Pfund brachte, als armer Schlucker in Freiheit. In einer Zeit, wo nichtswürdige Nieten in Nadelstreifen das Britische Bankensystem um Milliarden Pfund erleichtert haben.
Happy Birthday, Ronnie!
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