Zum Tod von Käthe Reichel

Nachruf Am 19. Oktober ist die Schauspielerin Käthe Reichel gestorben – die letzte Brechtschülerin, die Schauspielerin, die nie auf einer Schauspielschule war, die Einmischerin
Käthe Reichel. Hier beim Besuch in New York
Käthe Reichel. Hier beim Besuch in New York

Foto: Thomas Knauf

Käthe Reichel war verrückt.Bis zuletzt glaubte sie an die Durchsetzbarkeit sozialer Gerechtigkeit, dass der Mensch durch Bildung und Brot ein friedliebendes Tier wird und ziviler Ungehorsam die erste Bürgerpflicht ist. Dafür ging die letzte lebende Brechtschülerin, die nie eine Schauspielschule besuchte, aber eine der markantesten Aktricen im Theater und Film der DDR wurde, im stürmischen Herbst auf die Straße, um der in selbstgerechter Pose erstarrten Honecker-Regierung Beine zu machen. Trotz dünner Stimme traf die Reichel am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz den richtigen Ton für das noch schüchterne Gefühl des „Wir sind das Volk!“ der Ostberliner und feierte mit der Rolle der Propagandistin einer friedlichen Revolution ihren größten Erfolg.

Dass sie bei einer Versammlung der Berliner Künstler im Friedrichstadtpalast aufsprang und „Zu den Waffen!“ rief, als bekannt wurde, der DDR-Außenhändler Schalck-Golodkowski habe sich in den Westen abgesetzt, war Ausdruck ihres manchmal ungezügelten Temperaments und lockerte die verkopfte Ratlosigkeit der sozialistischen Kunstmeute auf. Als einzige von ihnen beteiligte sich die Reichel, die in ihrer Kindheit oft mit leerem Bauch zu Bett gehen musste, am Hungerstreik der Kalikumpel von Bischofferode, deren Arbeit in Kanzler Kohls vereintem Deutschland nicht mehr gefragt war.

1995 drängte sie den todkranken Heiner Müller, das Berliner Ensemble zur Tribüne der Solidaritätsaktion "Mütter, versteckt eure Söhne" zu machen, um den Krieg in Tschetschenien zu beenden. Mit großem Eifer warb sie für den Friedensnobelpreis für das Komitee der Soldatenmütter Russlands und erhielt dafür 2000 den Menschenrechtspreis der Gesellschaft für Bürgerrechte und Menschenwürde. Zur Verleihung las sie Brechts Die Heilige Johanna der Schlachthöfe und bewies, dass das wegen Antiamerikanismus im Westen selten gespielte Stück immer noch ein starker, leider aktueller Text ist. 1961 wurde Reichel in der Rolle der Johanna Dark in Benno Bessons Inszenierung fürs Stuttgarter Schauspielhaus ausgebuht.

Berliner Schnauze

Käthe Reichel war anstrengend.Wer mit ihr arbeitete, brauchte starke Nerven und viel Geduld. Ob im Theater oder Film, ihre Rollen spielte sie nicht einfach "vom Blatt", sie nervte die Regisseure mit Fragen zu Charakter, sozialem Gestus, Figu-rensprache, "kitschte" sich ein, indem sie sich in die Kunstfigur einfühlte und deren Eigenarten während der Probenzeit auch in den Pausen beibehielt.

Das irritierte die Kollegen, die sie für seltsam belächelten und deshalb gern als verschrobene Alte besetzten. In dem Fernsehmehrteiler Daniel Druskat (1976) spielte sie ein Dienst-mädchen von schlichtem Gemüt mit tragikkomischen Zügen und stahl den anderen Darstellern die Show. Wenn der Regisseur Lothar Bellag, einst selbst Schauspieler bei Brecht, „Aus!“ rief, fragte sie jedes Mal: "Bellag, was habe ich falsch gemacht?“ Die Antwort lautete meist: „Alles, Käthchen, alles.“ Das hieß, sie hatte mehr gegeben, als im Drehbuch stand. Auch privat war die Reichel sehr eigen, kompromisslos; vehement vertrat sie ihre Überzeugungen mit Berliner Schnauze.

Die Reichel konnte schreiben und korrespondierte mit interessanten Autoren wie dem Nürnberger Publizisten Robert Kurz, dessen Buch Honeckers Rache sie auch öffentlich vortrug. Einmal besuchte sie mich in New York und wohnte mehrere Wochen bei mir. Wie Wladimir Majakowski 1925 hatte sie sich vorgenommen, den Hort des Kapitalismus zu hassen, verliebte sich aber schon nach wenigen Tagen in die Stadt und schleppte mich in alle Theater und Museen.

New York im Glück

Im Haus von Kurt Weill und Lotte Lenya in New City trug sie mit leiser Stimme die Ballade von der Seeräuber-Jenny vor, die sie auf der Bühne nie singen durfte. Dafür wackelten die Wände des New Yorker Goethehauses, als sie Kleists Erdbeben in Chili vorlas. Obwohl sie bedauerte, dass Brecht nie am Broadway ankam, sah ich Käthe Reichel, die eigentlich Waltraut Reichelt hieß, in Amerika glücklich wie nie.

Seit dem Selbstmord ihres einzigen Kindes, Sohn des Malers Gabriele Mucchi, lebte sie mit sich allein in einer Wohnung unweit des Deutschen Theaters. Dort gehörte sie bis zum Weggang von Thomas Langhoff zum Ensemble, spielte zuletzt die Grusche in Brechts Kaukasischen Kreidekreis neben Klaus Löwitsch als Azdak.

Die letzten Jahre wohnte sie zurückgezogen in Buckow, baute Kartoffeln an für den Fall, dass der Kapitalismus zusammenbricht und eine Hungersnot kommt, schrieb ihre Windbriefe an den Herrn b.b. und Dämmerstunde. Erzähltes aus der Kindheit und hielt ihr Haus in Ordnung, um es nach ihrem Tod der Partei der Linken als Erholungsheim zu schenken. Alle Versuche, ihr den Plan auszureden und das Haus lieber der polnischen Putzfrau zu überlassen, begegnete sie mit den Worten: „Durch ehrliche Arbeit ist noch niemand zu Besitz gekommen.“

Käthe Reichel war ein Kind des 20.Jahrhunderts. Als Halbjüdin in ständiger Angst vor den Nazis aufgewachsen, erlebte sie als junge Schauspielerin am Berliner Ensemble die Angriffe der Stalinisten gegen das Epische Theater Brechts, nach dessen Tod die formale Verklärung seiner Schüler und ideologische Gängelung nichtkonformer Kunst. Obwohl die Reichel weder dumm noch blind war, hielt sie an Brechts Hoffnung auf Verbesserung des DDR-Sozialismus fest und sah das Theater als volkseigene Lehranstalt, nicht als Amüsierbetrieb braver Staatsbürger.

Dafür kämpfte sie mit schauspielerischen Mitteln und wurde oft missverstanden, weil sie Freundlichkeit forderte, aber nicht immer freundlich sein konnte in einer unfreundlichen Zeit. Ihr Tod ist wie ein Abgesang auf das vor Wahnsinn knallende Jahrhundert, das Brecht die finsteren Jahre nannte. Vielleicht schrieb der Dichter 1950 diese Zeilen an seine Geliebte: Traue nicht deinen Augen/Traue deinen Ohren nicht/Du siehst Dunkel/Vielleicht ist es Licht.

Käthe Reichel liest das "Gleichnis des Buddha vom brennenden Haus" von Bertold Brecht:

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