Es ist ein Irrtum anzunehmen, daß DDR-Bürger bis 1989 keinen Anlaß hatten, sich zur Verfassung des anderen deutschen Teilstaates in Beziehung zu setzen. Dieses Grundgesetz hat durchaus als Zwang oder als Anregung, sowohl selbstbestimmt wie organisiert, eine Rolle gespielt. Zum Beispiel als es um die Notstandsgesetzgebung der Bundesrepublik ging. Damals ist viel Fußvolk der DDR auf den Straßen gewesen - organisiert -, wenn auch ohne Vorstellung, was davon wie auf die eigenen Belange zurückwirken könnte. Bei den Unzufriedenen, den Reisefreudigen, den Dissidenten der späten achtziger Jahre, wußte man hingegen - selbstbestimmt - die liberalen Positionen dieses Grundgesetzes - Meinungsfreiheit, freie Wahl des Lebensortes etc. als Leitbild zu nutzen. 1989/90 beginnen dann alle sozialen und alle Altersgruppen der ostdeutschen Gesellschaft ein praktisch-geistiges Verhältnis zum Grundgesetz auszubilden. Wie diese Beziehungen sich aufbauen, verläuft nach sozial-kulturellen Milieus und Generationen recht verschieden, aber eine Annäherung findet überall statt.
Am Beginn stand die Entscheidung für die deutsche Einheit als Lösung der Krise des Staates, der Gesellschaft und des Systems, das als DDR sein Leben aushauchte. Das Ergebnis war offen. Aber die Ostdeutschen hatten letztlich nur zwei Optionen. Sie konnten den Weg der Einbeziehung der DDR in den Geltungsbereich des Grundgesetzes wählen, sie hätten sich aber auch für die Neukonstituierung Deutschlands über eine gemeinsame, neu akzentuierte Verfassung aussprechen können.
Der Weg nach Artikel 146 GG scheiterte bekanntlich ebenso am westdeutschen Widerstand wie an der unzureichenden Unterstützung im Osten. Allerdings ließen sich die Mehrheiten bei ihrem Votum für den Beitritt weniger vom Verfassungstext als von den Bildern der Verfassungswirklichkeit in der Bundesrepublik leiten, die sie sich bis dahin gemacht hatten.
Differenzierte Wahrnehmungen fanden bei vielen wesentlich später statt und noch immer wird mit Erstaunen bemängelt, daß die Bundesrepublik auch im Jahre IX der staatlichen Einheit ein Land ist, das in zwei Subgesellschaften zerfällt. Die ostdeutsche unterscheidet sich von der westdeutschen unter anderem dadurch, daß es keine überregionale ostdeutsche kulturelle Öffentlichkeit gibt, die die Auseinandersetzung mit dem Geist des Grundgesetzes stimulieren, moderieren und bündeln könnte. Diese Leerstelle wird auch nicht durch funktionale Äquivalente oder Substitute ausgefüllt. Es gibt keine politische oder soziale Kraft, die in Ostdeutschland ihren Interpretationen und Deutungen Geltung verschaffen könnte. Dabei konkurrieren längst verschiedene Anwärter auf die politisch-kulturelle Hegemonie. Sie verfügen über eine je unterschiedliche Definitionsmacht, nicht aber über die Interpretationshoheit.
Die drei Prätendenten würde ich a) als »Träger eines neuen ostdeutschen Wir- und Selbstbewußtseins«, b) als »ÂostÂdeutsche Bundesbürger« und schließlich c) als die »Völkischen im Osten« bezeichnen. Wichtig ist, daß sie sich in ihren Werten und Einstellungen zu allen gesellschaftlichen Fragen, so auch in ihrer Haltung zum Grundgesetz, trennscharf voneinander abheben.
Konstitutiv für die erste Gruppierung ist, daß sich die Individuen nicht allein, nicht einmal in erster Linie als Ostdeutsche wahrnehmen, gepaart mit der Gewißheit, nicht westdeutsch zu sein, sondern zudem eine Affinität für linke Leitwerte sowie prosozialistische Einstellungen ausgebildet haben (darunter würden ich gut 60 bis 70 Prozent der Ostdeutschen im wahlfähigen Alter rechnen). Ihr Verhältnis zum Grundgesetz ist durch Annäherung, Wertschätzung und Distanz gekennzeichnet. Sowohl die Annäherung als auch die Distanz resultieren zunächst daraus, daß die »prosozialistischen Ostdeutschen« in der Sache zu einem Demokratietyp des demokratischen Sozialismus tendieren. Dieser unterscheidet sich von anderen im Grundrechtsverständnis - liberale plus soziale Grundrechte werden eingefordert -, in der favorisierten Form der Willensbildung - repräsentative plus umfassende direkte Bürgerbeteiligung wird bevorzugt - sowie im Staatsverständnis, sie plädiert für den Rechtsstaat mit starker Institutionalisierung gerechter Prinzipien. Diese Gruppe nimmt eine erhebliche Diskrepanz zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit wahr. Sie reibt sich an einzelnen Artikeln beziehungsweise an deren landläufiger Lesart.
Bei den »prosozialistischen Ostdeutschen« lassen sich zwei Arten des Beziehungsaufbaus zum Grundgesetz erkennen. Zum einen ist die Rezeption vielfach selektiv und wenig systematisch, vollzieht sich fern zu den in den alten Bundesländern geführten Diskursen und weitgehend ohne Kenntnis relevanter Lesarten. Dabei werden jedoch Verfassungsartikel in die eigene Weltsicht eingebunden und eigensinnig ausgelegt. Paragraphen wie »Eigentum verpflichtet« werden wörtlich genommen, das Gebot, keine Kriege zu führen ebenso. Dabei akzeptieren sie keinerlei einschränkende oder relativierende Gesetze oder Kommentare, sondern fordern eine Eins zu Eins-Umsetzung. Auf der anderen Seite bilden insbesondere jene, die die Politik zu ihrem Beruf gemacht haben, eine lebendige, bewußte, systematische und diskursnahe Beziehung aus und argumentieren damit.
Aus Ostdeutschen, die sich in erster Linie als Bundesbürger wahrnehmen und zudem ein deutliches Unbehagen, ja eine sichtliche Distanz zu allem Osthaltigen erkennen lassen, wenn sie nicht gar an »Zonophobie« - wie Monika Maron - leiden, rekrutiert sich der zweite Anwärter auf politisch-kulturelle Hegemonie zwischen Oder und Werra. Geleitet von massiven anti-ostdeutschen Ressentiments halten die »'ost'deutschen Bundesbürger« die Bundesrepublik, so wie sie ist, für die beste aller möglichen Welten. Dieses Einstellungssyndrom findet sich bei knapp 20 Prozent der Wähler in den neuen Bundesländern. Die »'ost'deutschen Bundesbürger«, die häufig zum Establishment gehören, haben ein bejahend-affirmatives Verhältnis zum Grundgesetz. Unterschiede, abweichende Lesarten gegenüber dem bundesdeutschen Mainstream sind von ihnen nicht zu erwarten. Eher schon Vorschläge, wie der »Geist des Gesetzes« ostdeutschen Lebenswelten zu vermitteln sei.
Die Einstellungen und Werthaltungen der »Völkischen« schließlich, die sich in erster Linie als Deutsche beziehungsweise »Mitteldeutsche« wahrnehmen, finden ihren konzentrierten politischen Ausdruck in den drei Rechtsparteien DVU, REP und NPD. Dissens gegenüber den liberalen und demokratischen Verfassungsartikeln beziehungsweise ihre restriktive, deutschtümelnde Auslegung kennzeichnen die Beziehungen der »Völkischen im Osten« zum Grundgesetz, die noch weiter geht, als in gleichgerichteten Kreisen der alten Bundesrepublik laut gesagt wird. Hier verbindet sich Anspruchshaltung mit ausgestelltem Nationalanspruch, das Grundgesetz wird ausschließlich für die Selbstdarstellung ausgeschlachtet.
Für alle drei Gruppen aber gilt: das Grundgesetz ist in ihrer Welt angekommen, aber in höchst unterschiedlicher Weise im Verfügungs- und Orientierungswissen der Menschen präsent. Nostalgie in Bezug auf die Verfassung der DDR gibt es nicht.
Michael Jäger
Zu viel Stabilität
Wolfgang Ullmann
Raum des Rechts?
Wolf-Dieter Narr
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