Bewusstsein auf der Strecke

KEIN SCHELMENROMAN Sten Nadolnys Roman einer Deutschlandreise "Er oder ich"

Ole Reuter ist ein flüchtiger Bekannter. Es ist schon ziemlich lange her, da saßen wir mit ihm in einem Zugabteil. Sein Erfinder Sten Nadolny hatte ihm eine "Netzkarte" und ein Kursbuch gekauft und ihn, den angehenden Referendar auf Deutschlandreise geschickt. Schon damals empfanden wir seine Gesellschaft als wenig aufregend, ein 68er mehr auf der Suche nach seiner Bestimmung - was kann es Langweiligeres geben? Dann hat sich sein Erfinder anderen, interessanteren Figuren zugewandt, die mit ihm in die Arktis und in die griechische Götterwelt reisten. Und nun, nach fast zwanzig Jahren, taucht Ole Reuter wieder auf. Und erneut steht er am Bahngleis, hat eine Netzkarte in der Hand und will sich vom Leben erholen.

Alles scheint gleich und ist doch völlig anders. Reuter ist nun ein dicker, alter Sack, trägt ein Hörgerät, Hosenträger und zwei randvolle Koffer, "ein treibendes Wrack" mit Haarausfall und Verdauungsstörungen, das sich aus einer Sinnkrise in die Erste Klasse von Intercity-Zügen flüchtet. Die Zeit läuft, die Züge fahren - ob Reuter irgendwo ankommen wird, bleibt erstmal fraglich. Sein Reisegepäck enthält Whiskey, Pillen und eine Pistole; bereits hier keimt der Gedanke, ob diese Kur- und Bildungsfahrt nicht von einem parodistischen Hintergedanken getragen wird. Sechs Kapitel bedeuten auch sechs Schreibhefte; der aus dem Tritt geratene Reuter fixiert mit manischer Akribie seine Erlebnisse, spiegelt und spaltet sich als mutiples Wesen, spricht mit Schutzengeln und teuflischen Wesen, korrespondiert und telefoniert mit Mutter, Frau und (möglicher) Freundin, verliert sich in Alpträumen und im Leben gleichermaßen.

Sein Bewusstsein bleibt auf der Strecke, da kann er hinfahren, wohin er will. Alte Erinnerungen auffrischen und neue Entdeckungen machen, West und Ost, alles austauschbar, die Reise findet im eigenen Körper statt, der streikt irgendwann und Reuter bricht zusammen - natürlich am Großen Brocken, fehlen nur noch die Walpurgishexen. Böses will er tun, Taxis klauen, seine Frau betrügen, sein "Kampfgedächtnis" auffrischen, um sich an allen Widersachern rächen zu können. Der Teufel ist los, faustsche Pakte im Visier, die Angst treibt den Unternehmensberater Reuter an den Rand des Wahns - nennt man das gemeinhin Midlife-Crisis? Keine Ahnung, wohin sowas führen kann, aber bei allem Verständnis für den Frust alternder Männer - ist das nicht ein bisschen dick aufgetragen? Muss gleich so feierlich von Rettung und Heilung gesprochen werden, nur um ein paar Versagensängste und ein wenig Unglück zu kompensieren? Reuter spuckt große Töne und bäckt im Grunde kleine Brötchen. Er greift schon in die Vollen, erzählt, er habe sich eventuell bei einer Heroinsüchtigen mit dem HIV-Virus angesteckt und warte jetzt auf den Bluttest. Dazu hat er den Tod seiner einzigen Tochter, die an Asthma gestorben ist, nicht verwunden. Aber beide Motive erhalten keinen angemessenen Erzählraum und bleiben im Grunde blass, Reuter gondelt ziellos durchs weite Land, ein bißchen Katharsis hier, ein wenig Versuchung dort, dazwischen zum eigenen Nervenkitzel ein paar Action-Träume, das war's. Damit die Sache komisch werden kann, fehlt uns der Glaube an ein wirkliches Leiden dieses Seelenstrategen. Sicher blitzen hier und da ironische Glanzlichter, erkennen wir persiflierende Anspielungen auf literarische Muster und goutieren die Erfindungsgabe des Autors, aber in den Sog eines teuflischen Spiels oder in ein existentielles Ringen geraten wir nicht. Auch eine durchgehaltene ironische Konnotation wird bei allen Versuchen Reuters, eine Distanz zur eigenen Befindlichkeit zu finden, nicht erkennbar. Ein Schelmenroman ist dies sicher nicht.

Warum sollte man sich für Reuter und seine Bahnfahrt interessieren, gerade wenn man selbst nicht von Depressionen gebeutelt wird und auch nicht seit jeher Lokomotivführer werden wollte? Die gesellschaftliche Wirklichkeit bleibt während dieser Passionsfahrt weitgehend Kulisse, obwohl der Westberliner Ole viel im Osten unterwegs ist. Wurstsuppen, Backshops, Fähnchenhalter und Dresdner Mückenplagen zählen zu den nachhaltigsten Wahrnehmungen unseres Vergnügungsreisenden, der allerdings auch immer nur kurze Aufenthalte hat. Darum geht's unserem Mann auch nicht, er liest lieber die Bücher von Daniela Dahn, genießt den Wirbel der Identitäten, sucht Läuterung und Abwechslung. Der Weg ist das Ziel, wiedermal. Aber es ist ein zäher Weg, und wir sind nicht allzu böse, dass am Ende klar wird, dass wir Ole Reuter nie mehr begegnen werden. "Ich habe andere Freuden entwickelt, von Wertpapieren abgesehen", sagt Ole. "Etwa die Kunst 'to make others feel like shit'." Vielleicht ist er doch durchtriebener, als man denkt.

Sten Nadolny: Er oder Ich. Roman. Piper Verlag, München 1999, 264 Seiten, 38,- DM

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