Es gibt nur einige Personen im öffentlichen Raum, die in der Lage sind, künstlerisches Arbeiten mit politischen Ambitionen und Ämtern produktiv zu verknüpfen. Und es sind noch weniger, die ihr politisches Anliegen mit ihrer ganzen Persönlichkeit vertreten und dabei völlig uneitel erscheinen. Auch wenn Dieter Lattmann sich selbst als nicht einfachen Fall charakterisiert, so beeindruckt doch der geradlinige, unprätentiöse Gestus dieses Mannes, der so viel erlebt und so Entscheidendes für die politische Verfasstheit unserer Gesellschaft bewirkt hat. Der gebürtige Potsdamer zählte nie zu den Mediengesichtern unseres Landes und war doch als Lobbyist für die Kultur ein wesentlicher Ideengeber. In welcher seiner zahlreichen Funktionen er auch tätig war - er hat unendlich viel für die Existenz der freien Autoren geleistet, ebenso für den Dialog zwischen den Kulturen und die Vermittlung des geschriebenen Wortes.
Wer Dieter Lattmann ein wenig kennt, weiß, dass seiner norddeutschen Mentalität verwegene Seiltänze und Luftsprünge eher fern liegen. So begann seine berufliche Laufbahn damit, dass er mit dem Verleger Karl Vötterle die durch Bombentrümmer verschütteten Druckmaschinen des Bärenreiter Verlages bei Kassel wieder ausgrub. Dort lernte er das Handwerk des Büchermachens von der Pieke auf und lernte andere Büchermenschen kennen, so dass es nicht verwundert, wenn Lattmann in seinen Erinnerungen allen großen Verlegerpersönlichkeiten dieser Jahre, von Peter Suhrkamp angefangen über Joseph Caspar Witsch und Heinz Friedrich bis hin zu Klaus Piper und Daniel Keel, seine Honneurs macht. Lattmann hatte in den 25 Jahren bis 1972, als er für die SPD in den Bundestag einzog, alle Aspekte des Verlagswesens kennen gelernt: Als Vertreter, Hersteller, Leiter einer Presseabteilung, Assistent der Verlagsleitung, freier Autor und literarischer Scout arbeitete er für namhafte deutsche und ausländische Verlage. Für einen Mann, der wie viele andere mit der Lektüre von Walter Flex Wanderer zwischen den Welten (1917) aufgewachsen war, musste die Möglichkeit, sich mit der Lektüre der bis dato in Deutschland unbekannten oder verbotenen Autoren der Weltliteratur viele neue Perspektiven zu erlesen, wie der Eintritt in neue Dimensionen geistigen Bewusstseins erscheinen.
Als Lattmann dann, Jahre später, eigene Texte schrieb und veröffentlichte, blieb diese Lektüre ebenso prägend wie die Begegnung mit anderen Autoren, zum Beispiel Ingeborg Bachmann: "Das Manuskript, aus dem ich auf der Elmauer Tagung las, habe ich später vernichtet. Nachdem Ingeborg Bachmann mit linearer Stimme ihre Erzählung Alles vorgetragen hatte, wusste ich mehr, als die Kritiker der ersten Reihe mir hatten beibringen können. Seitdem habe ich mich als Autor, scheint mir, nicht noch einmal so in meinen Möglichkeiten verschätzt."
Dieter Lattmann hat Romane, Erzählungen und Essays veröffentlicht und für Hörfunk und Fernsehen gearbeitet. Seine Selbstcharakterisierung als "politisch-literarische Mehrzweckfigur" dokumentiert sein persönliches Dilemma als Schriftsteller. Es weist auf die symbiotische Nähe seiner literarischen Texte zu politischen Themen hin, was ihm häufig den Vorwurf eines didaktisch und moralisch kalkulierten und deswegen ästhetisch anspruchslosen Schreibstils eingebracht hat. Der Vorwurf zeigt sich als haltlos, wenn man zum Beispiel seinen Roman Die Brüder (1985) und seinen Erinnerungsband Einigkeit der Einzelgänger (2006) liest. Lattmanns unaufdringlicher Erzählstil kennzeichnet sein stets ehrliches Bemühen um eine sachliche Auseinandersetzung, die bei aller Sympathie für den Zweifel und den Zwischenruf nicht vergisst, wo Ideologie und Dogmatismus die Menschlichkeit verdrängen können.
Dieter Lattmann organisierte 1968 den "Verband deutscher Schriftsteller" (VS) und betrieb als dessen erster Vorsitzender (bis 1974) den Anschluss an die Gewerkschaften. Von 1972 bis 1980 gehörte er als Sozialdemokrat dem Bundestag an und sorgte unter anderem dafür, dass Freischaffende in das Tarifvertragsgesetz aufgenommen sowie die Künstlersozialversicherung und ein Altersversorgungswerk ("Bibliotheksgroschen") eingerichtet wurden. "Du bist unser Abgeordneter", hat einmal Günter Grass zu ihm gesagt. Lattmann war ein unermüdlicher Werber für den VS, er gewann Autoren wie Grass, Böll und Walser, ja sogar Ernst Bloch als Redner für die Versammlungen des VS und verankerte damit den Verband medienwirksam in der Öffentlichkeit und im Bewusstsein vieler Autoren. Bis heute ist er dem Schriftstellerverband, der ihn zu seinem Geburtstag am 15. Februar mit dem Ehrenvorsitz auszeichnete, verbunden, gemäß seinem Motto: Ehrlich und frei.
s. Dieter Lattmann: Mein Leben mit Literatur und Politik. A 1 Verlag, München 2006 / Thomas Kraft ist Vorsitzender des VS Bayern.
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