Germania heißt die Kleine

MACHT SICH ZU KLEIN Barbara Boys Erinnerung an eine Kindheit in der DDR: "Traumschuster"

Die kleinen Geschichten erklären die große Geschichte. Man könnte auch sagen: Die Weltläufte scheinen ohnehin schwer fassbar, da hält man sich vorzugsweise an das Überblickbare, das selbst Erlebte. Anders kann man die zahllosen Versuche nicht interpretieren, die eigene Biographie zur Folie literarischer Weltaneignung zu erheben und sich ein Stück Historie in die gute Stube zu holen. Zeitzeugenschaft avanciert heute schnell zum Prädikat; was man selbst erlebt hat, gilt als beglaubigt. Authentizität ist das Gütesiegel der Literatur in Zeiten krisenhafter Erfahrungen. Wenn kollektive Zusammenhänge und Systeme an Wertschätzung verlieren, springt das individuelle Erleben mit seinen subjektiven Mustern normativ in die Bresche. Die Möglichkeit, dass das damals Erlebte aus den verschiedensten Gründen sowohl im Zeitpunkt der unmittelbaren Wahrnehmung wie auch aus der späteren Distanz heraus ganz diffus gesehen und bewertet werden kann, wird in Memoiren meist vernachlässigt. Nur sehr selten und dann in der Regel zum Vorteil des Textes gereichend werden diese Probleme in die literarische Darstellung integriert und dort reflektiert. So interessant, spannend und komisch diese Texte auch sein mögen, sie weisen nur selten über sich hinaus und verharren letztlich doch eher im Privaten.

Man mag zu Recht fragen, was all dies mit dem Roman von Barbara Boy zu tun haben. Viel. Ihr Roman Traumschuster bordet förmlich über an Anekdoten, die Ich-Erzählerin offeriert eine Sozialisation im Sozialismus, die mit Charme, Offenheit und Humor rekapituliert wird. Es fallen die wichtigen Wörter, es entsteht Zeitkolorit à la Lenz und Kempowski, die kritische Haltung zum System sei geschenkt (dazu hätte das Buch fünfzehn Jahre früher erscheinen müssen), man schmunzelt und nickt, ja, so war das wohl.

Im wesentlichen wird die Geschichte eines jungen Mädchens und seiner Familie erzählt, die irgendwo in der ostdeutschen Provinz die Nachkriegsjahre und die Gründung und Etablierung der DDR in all ihren Konsequenzen bis Ende der 60er Jahre erleben. Da ist anfangs von Findelkindern, Heimkehrern und Blindgängern die Rede, von Bombennächten, Kriegskrüppeln und ihren Traumata. Der Ton ist derb und hemdsärmlig, das Essen karg und die Angst vor den Vopos präsent. Das kleine Mädchen, aus deren Perspektive die Autorin erzählt, flüchtet sich in die Geschichten der Großmutter und in ihre Tagträumereien, die ihr zum Lebenshalt werden. Germania heißt die Kleine, der Tod lauert nicht nur in Berlin, überall hallt der Krieg nach und neue Gefahren lauern. Die Partei fordert ihren Tribut, der Vater muss sich ducken, um wieder seinen Beruf ausüben zu können, der Kirchgang wird notgedrungen abgeschafft und manch neue Wunde kommt hinzu. Im familiären Bereich und in der Dorfgemeinschaft, in der die kleine "Gemma" aufwächst, werden jeder Mangel und jede Bedrohung deutlich spürbar. Dazu kommen, solange es möglich ist, die Besuche bei den Verwandten im Westen. Das schärft das eigene Bewusstsein von Recht und Unrecht, Fluchtpläne entstehen und werden eines Tages in die Tat umgesetzt.

Dazwischen ist aber Platz für die Erfahrungen einer Heranwachsenden: Kindleinkanne, blonde Zöpfen, Zuckertütenbaum, Krippenspiel, Hitler-Parodien, Modenschau, erste Blutung, Lektüren, Revue im Friedrichstadtpalast, Sputniks und Butlers, Jugendweihe und erste Liebe. Stichworte, hinter denen sich "Schusterträume" verbergen, aber auch Zeitgefühl und Lebenslauf. Vieles hat hier sentimentale Qualitäten, ist Erlebnisbericht und Chronik einer Familie und - in Teilen - einer dörflichen Gemeinde.

Im Bewahren und Weitererzählen von Geschichte manifestieren sich bekanntlich Kultur und Tradition, vermitteln sich Werte und Erfahrungen. In dieser Hinsicht nimmt der Roman Traumschuster wichtige Aufgaben wahr. Er rekonstruiert ein Stück ostdeutscher Vergangenheit aus der Sicht einer Kindes und - später - einer jungen Frau. Viele Facetten und Details mögen in diese Geschichte eingegangen sein, die die Autorin wiederbelebt und gesammelt hat. Darin und nicht nur darin liegt zweifellos ein Verdienst dieses Romans. Denn hinzu kommt seine enorme Lesbarkeit und sein Unterhaltungswert. Figuren wie die fette Tante Minna und die ehemalige Chansonsängerin Tante Lucie, die jetzt in einer Berliner Laubenkolonie lebt, oder auch der liebevoll gezeichnete Großvater gelingen der Autorin großartig; auch ihre Fähigkeit, Dialoge, zum Teil im Dialekt, zu schreiben, ist mehr als beachtlich.

Und doch ein Einwand: Bei all den besonderen Vorzügen, die diesen Roman auszeichnen, fehlt ihm - meist - eine entscheidende Ebene. Es ist die der Reflexion, der kritischen Überprüfung des Erlebten und Gesagten. Man kann einen Roman, der im Zeitraum von etwa 1950 bis 1967 spielt und im Jahre 2001 veröffentlicht wird, nicht mit der naiven Attitüde eines Kindes, einer Jugendlichen erzählen und es im wesentlichen dabei belassen. Die Wiedergabe dieser Jahre ist das eine, das damalige und das aktuelle Verhältnis des Autors zum damaligen Geschehen das andere. Der Vorwurf ist der Autorin zu machen: Ihr Text verharrt im Grunde in der kleinen Geschichte und macht sich dadurch kleiner, als er in Wirklichkeit ist.

Barbara Boy: Traumschuster. Roman. Edition Nautilus, Hamburg 2001. 273 S., 36,- DM

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