Grenzbereiche

GANZ DICHT DRAN Melitta Brezniks Geschichten erzählen mit Wehmut vom Sterben

Eine letzte gemeinsame Zigarette, die Erinnerung an alte Zeiten, die mühsame Balance zwischen Lebensverdruss und tödlicher Befreiung, "der grünliche Flaum von Schimmel, der die Konturen zu verwischen" beginnt, der verschleierte Blick auf das eigene Sterben, letzte Briefe von Todesanzeigen und am Ende die immer als unangemessen empfundene Geste des Abschieds. Von den Ängsten und der Verzweiflung einsamer Männer und Frauen, die gefährdet sind, ihre eigene Grenze zu überschreiten, erzählen die Geschichten Melitta Brezniks.

Living on the edge - schon in ihrem Prosadebüt Nachtdienst (1995) überzeugte Breznik, die als Ärztin in Zürich lebt, mit ihren sensiblen und hochkonzentrierten Versuchen der Annäherung an die Grenzbereiche zwischen Leben und Tod. In den acht Erzählungen ihres neuen Bandes lauschen wir eines Nachts einem rastlos-grüblerischen Bauingenieur, der in all seinem Tun völlig unberechenbar scheint und sich mit Essen vollstopft, um sich für eine Weile von seiner Existenzangst zu lösen. Wir sitzen am Bett eines alten Mannes, der im Sterben liegt, vom Krieg erzählt und dabei kleine Holzfiguren hervorholt, die ihn ein Leben lang begleitet haben. Durch eine Namensgleichheit ausgelöst, folgen wir dem Strom von Erinnerungen an eine alte WG-Gefährtin und werden von ihrem Tod überrascht. Der letzte Brief eines Aids-kranken Freundes erreicht uns bei der Ferienarbeit auf der Alm, wir werden am offenen Herzen operiert, sehen im Fiebertraum schon unsere eigene Beerdigung und entschuldigen uns bei all denen, die wir vergessen haben und deren Weggang uns plötzlich trifft. Man ist ganz dicht dran an diesen Schicksalen, so wie sie uns Melitta Breznik, fast ohne Ausnahme aus der Ich-Perspektive, nahebringt mit ihrer erzählerischen Gabe, diskret und konkret gleichzeitig zu sein.

Es sind bewegende, ja erschütternde Geschichten über Freundschaft und Sexualität, über Krankheit und Tod - hervorzuheben Das Herz -, die tastend und behutsam und doch mit der nötigen Eindringlichkeit zeigen, wie eng Liebe und Tod aufeinander bezogen sind. Melitta Breznik erzählt mit Wehmut vom Sterben, ihre Figuren wecken die Hoffnung auf ein Leben, das an unseren inneren Abgründen nicht verzweifelt. Ein großartiges Buch.

Melitta Breznik: Figuren. Erzählungen. Luchterhand Literaturverlag, München 1999, 123 S., 29,80 DM

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