"Man braucht ein Profil. Jedenfalls auf dem Arbeitsmarkt. Und ich hab inzwischen so viel davon - aus mir kannst du n´Satz Winterreifen machen." Saloppe Sprüche wie dieser tauchen immer wieder in Ralf Rothmanns letztem Erzählband Rehe am Meer auf. Mit Lakonie und einem gewissen Proll-Charme leuchtet Rothmann jene Milieus aus, die die Politik zur Zeit als "Unterschicht" neu entdeckt hat. Wenn er von Günther Sobotzkis Polterabend erzählt, vom "zweibeinigen Bäcker" oder vom arbeitslosen Richard, der seiner Frau hinterherspioniert, von Baustellen, Schichtarbeit und sozialem Abstieg, dann tut er das mit einer sehr subtil ausbalancierten Mischung aus sozialem Interesse und poetischem Blick; daraus entsteht eine literarische Melange, die in der deutschen Literatur die
eratur dieser Zeit ihres Gleichen sucht.Ralf Rothmann ist mit Romanen über eine Kindheit und Jugend im Revier bekannt geworden, aber auch mit Texten aus der Mitte Berlins - topographisch und sozial gesehen. Das ist aber, um Missverständnissen vorzubeugen, keine neue Literatur der Arbeitswelt, die hier entsteht, auch kein Bericht über den Zustand unserer Republik, sondern Ausdruck eines Interesses, das fragt, was soziale Veränderungen aus Menschen machen, wohin und wozu sie sie treiben. Rothmann setzt direkt bei den intimen Beziehungen und in den Familien an, um zu erspüren, wie Menschen auf Trennung und Tod, auf den Verlust von Arbeit und sozialem Halt reagieren. Das wird aber nicht knallhart registriert und dokumentiert, sondern fast schwebend und nur vorsichtig andeutend in Szene gesetzt. Hier ist kein literarischer Sozialarbeiter, sondern ein großer, weil mit ungeheurer Sensibilität ausgestatteter Autor am Werk.Denn die Situationen, die Rothmann beschreibt, sind eigentlich nicht überraschend und neu. Aber die Art und Weise, wie er es versteht, mit einem Halbsatz, einem Hinweis oder auch mit einer Szene ganze Schicksale anzudeuten, ist schon grandios. So zum Beispiel in der ersten Erzählung, Nasse Spatzen, als der Handlanger Manni, der die Geschichte erzählt, nach einer Feier zurück auf die Baustelle geht und seinen von Termin- und Überlebensdruck gepeinigten Chef entdeckt, der in einem geradezu furiosen Anfall dabei ist, die Baustelle zu demontieren. Was sich hinter diesem Ausbruch von Gewalt und scheinbar sinnloser Zerstörungswut an Erschöpfung und Verzweiflung verbirgt, kann man nur ahnen, denn nirgendwo wird es expressis verbis berichtet. Aber Rothmann versteht es, mit wenigen Handstrichen, einem harten Tempowechsel und einem guten Gefühl für Spannungserzeugung die ganze Tragödie so aufscheinen zu lassen, dass man mehr zu verstehen glaubt, als wenn hier ausführlich erzählt würde. Diese Gabe macht ihn zu einem der bedeutendsten Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur.Überzeugend vor allem auch das Ende der Erzählungen: nie wirklich final, immer über sich selbst hinausweisend, neues Konflikt-, Erfüllungs- oder Sehnsuchtspotenzial andeutend. Beispielhaft die Schlussszene in Stolz des Ostens, als eine junge Mutter plötzlich entdecken muss, dass - während sie vor einem Campingmobil steht - drinnen ihr Mann mit einer anderen Frau schläft: "Ich fühlte meinen Puls in der Kehle und starrte auf den Schlüssel an der Tür des Wohnmobils, auf den silbernen Fisch, der sich leicht bewegte, immer wieder. Er glitzerte im Licht, und mein Baby schlug die Augen auf und lächelte." Das lässt Deutungen offen und ist emotional, ohne kitschig zu sein. Diese verletzten Seelen haben es Rothmann ohnehin angetan, Menschen, die betrogen, allein gelassen und herumgeschubst wurden, ihnen gibt er ein Gesicht und vor allem eine Sprache, die sie lebendig werden lässt.Die schönste Geschichte in diesem Band heißt Tausend Mönche und erzählt von einer Begegnung im Zug. Dr. Carst wird von der etwas naseweisen Citha Maria, einer zwölfjährigen Göre mit 33 Zähnen und dem poetischen Blick, angesprochen. Sie findet, dass er "umgestülpt" durchs Leben laufe, verwickelt ihn in ein langes Gespräch und erzählt ihm - auch metaphorisch zu verstehen - vom schönen Glücksburger Wasserschloss, das auf einem Friedhof gebaut sei, auf dem tausend Mönche begraben seien. Am Ende kippt diese kleine Koketterie jäh in eine Totenszene, die - in ihrer Anbindung an den Beginn der Geschichte - etwas Grusliges, Mysteriöses hat. Genau in diesem Umschlagen und den darin verborgenen Verbindungen liegt die besondere Qualität dieses großartigen Erzählens.Ralf Rothmann: Rehe am Meer. Erzählungen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006, 213 S., 19,80 EUR
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