Stumme Boten

Erzählen heisst überleben In ihrem neuen Buch "Das Umstellformat"erzählt Melitta Breznik einen Fall aus der nationalsozialistischen Psychiatrie

Die Notwendigkeit "der Aussonderung krankhaft veranlagter, entarteter Menschen aus der Gemeinschaft", wie es der Jurist Heinz Pietzner 1940 formulierte, wurde Anfang der vierziger Jahre in zahlreichen strafrechtlichen und medizinischen Fachpublikationen gefordert. Die Kooperation der Justiz mit der Psychiatrie schlug sich in der Kriminalisierung angeblich minderwertiger Bevölkerungsgruppen nieder. Hatte doch schon Sigmund Freud 1920 im Hinblick auf den Ersten Weltkrieg festgestellt, dass "den Ärzten so etwas wie die Rolle von Maschinengewehren hinter der Front zugefallen ist", die alle politisch unzuverlässigen, rassisch zweifelhaften und für den gesunden Volkskörper nicht verwendbaren Menschen zu pathologisieren und zu eliminieren hatten. Psychologische Therapien schienen in diesem Kontext fehl am Platz, eugenische Selektionsaxiome erwiesen sich als Zwischenstation auf dem Weg vom Sozialdarwinismus der Jahrhundertwende hin zu den Gasöfen von Auschwitz.

Neben Regimekritikern und Deserteuren waren vor allem Nervenkranke von der Stigmatisierung betroffen: "Hysterie, Epilepsie, Alkoholismus, allgemeine psychische Degeneration, Schwachsinn" galten, so der damalige Nestor der Psychiatrie, Ewald Stier, als Phänomene, die das deutsche Nationalbewusstsein potenziell gefährdeten; die Kranken wurden zur gesellschaftlichen Aussonderung vorgesehen. Bevor man ab 1942 dazu überging, diese Menschen in Konzentrationslager abzuschieben, setzte man sie brutalen Behandlungsmethoden wie totale Isolation, Nahrungsentzug, Dauerbäder, Bestrahlung, Operationen und allen denkbaren Formen des Psychoterrors aus. Dieses Kapitel deutscher (Medizin-) Geschichte wurde noch lange nach dem Krieg tabuisiert, von den Verwerfungen, die diese Schicksale in einzelne Familien hineingetragen haben, berichtet die Erzählung Das Umstellformat der Österreicherin Melitta Breznik, die als Ärztin heute in Graubünden lebt.

Erzählt wird die Geschichte einer Spurensuche, die der Großmutter der Erzählerin gilt. Von ihr existiert nur noch ein verschwommenes Porträt aus dem Jahr 1935, ansonsten scheint sie aus dem Gedächtnis ihrer Familie getilgt worden zu sein. Anlass für diesen merkwürdigen Vorgang ist ihre Erkrankung und Einweisung in eine Heilanstalt in dem Jahr, aus dem das Foto stammt. Die damals 39-Jährige phantasierte, so ist den Krankenakten zu entnehmen, von einem anonymen "Umstellformat", das sie bedrängt und ängstigt. Der Hinweis der Mutter, dass die Erzählerin eine große Ähnlichkeit mit der Großmutter aufweise, motiviert diese zu eigenen Recherchen. Mit ihrer Mutter besucht sie die "Vernichtungskliniken", in denen die Großmutter bis zu ihrem Tod 1943 verwahrt wurde.

Der Weltkrieg, die Schizophrenie der Großmutter und die Euthanasie durch die Nationalsozialisten werden in Brezniks Erzählung zwar angerissen, doch der Gestus des Erzählens bleibt eigentümlich zart und zurückhaltend. Der Autorin ging es offenbar nicht um die Darstellung des Grauens, obwohl nichts beschönigt und verschwiegen wird. Vorsichtig nähert sich die Erzählerin der Vergangenheit, die Gegenwart scheint auf den ersten Blick aufgeklärt und fortschrittlich. Denn selbst "in der Psychiatrie hatte sich einiges getan", ein Generationswechsel war vollzogen worden, die Verbrechen erforscht. Die Tötung der Kranken, des "minderen Lebens", war 1941, das weiß man heute, nur offiziell beendet worden.

Die historischen Fakten grundieren eine Auseinandersetzung, die in der persönlichen Betroffenheit wurzelt und an familiären Banden rüttelt. Wer erzählt, überlebt, heißt es. Und über wen erzählt wird, wird der Vergessenheit entrissen. In diesem Sinne wird hier die Geschichte einer Frau erzählt, deren Schicksal selbst von der eigenen Familie verdrängt worden war. Das tut die Autorin mit großer Akribie, das verschwommene Foto erhält Konturen, ein Mensch wird sichtbar. Doch es ist eben auch der Versuch, sich selbst zu positionieren, in der Familie und - die Erzählerin ist selbst Psychiaterin - in einem beruflichen Kontext. "Zu Hause", schreibt die Erzählerin, "gab es einige stumme Boten dieser Zeit", NS-Devotionalien; ihr Anliegen ist es, das Schweigen zu brechen, nicht berserkerhaft und um jeden Preis, aber mit stetem Nachdruck. Dazu zählen auch die Gespräche mit einem norwegischen Freund, einem alten Mann, in dessen Familie sie als Gasttochter während der Schulzeit weilte. Er selbst war Teil der nationalen Bewegung und Parteimitglied gewesen, musste als Kollaborateur nach dem Krieg ins Straflager und die Verachtung seiner Nachbarn zeitlebens ertragen. Seine Frau leidet an Alzheimer, sie wäre - hätte der Nationalsozialismus gesiegt - sicher auch der Euthanasie zum Opfer gefallen. Ironie des Schicksals: "Mit dem Ende des Krieges ist nicht alles vorbei gewesen."

Melitta Brezniks jüngste Erzählung fügt sich nahtlos in ihre bisherige Prosa ein. Wie in Nachtdienst (1995) und Figuren (1999) schildert sie auch hier mit erstaunlicher Ruhe das Eindringen des Todes in unsere Welt und erzählt von den Fragen, die das auslöst. Wer so präzise und gekonnt mit Sprache umgeht wie diese Autorin, muss zu den großen erzählerischen Begabungen unserer Literatur gezählt werden.

Melitta Breznik: Das Umstellformat. Erzählung. Luchterhand Literaturverlag, München 2002. 137 S., 15 EUR

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