Das Schatten-Management der Politik

Lobbyismus Die Aufregung über den Apotheken-Spion im Gesundheitsministerium geht in die falsche Richtung.In Wahrheit untergraben Lobbyisten die Legitimation der gesamten Politik
Die Apotheken-Lobby wußte schon immer, wie man möglichst schnell sein Ziel erreicht
Die Apotheken-Lobby wußte schon immer, wie man möglichst schnell sein Ziel erreicht

Foto: John MacDougall/Getty Images

Politik-Spionage sei wohl eine neue Form des Lobbyismus – so ahnungslos kommentiert eine Spitzen-NGO-Vertreterin, (die selbst Lobbyisten ausbildet), die Weitergabe von illegal beschafften, internen Daten des Gesundheitsministeriums an die Apotheker-Lobby. Die Medien sind plötzlich alarmiert und berichten so prominent wie nie zuvor auf allen Kanälen.

Die Geschichte ist einfach, klar und löst ein verborgenes Ressentiment gegen den übermächtigen Lobbyismus in einer simplen Droh-Botschaft auf. Dabei brauchen professionelle Lobbyisten keine Spionage-Helfer; sie sitzen ohnehin am Tisch der Macht. Politik und Lobby sind eng verzahnt und tauschen ihr Personal aus. Nur wird das weder von den Akteuren noch von der sogenannten Zivilgesellschaft oder den aufgebrachten Medien angemessen thematisiert.

Das lautlose Mitregieren, die stille Beteiligung an wichtigen politischen Entscheidungen und die beachtliche Gestaltungs- und Verhinderungsmacht der „Fünften Gewalt“ zehrt die Legitimation des politischen Betriebs auf. Die Vertrauens- und Handlungskrise von Parlament und Regierung ist eng verbunden mit den nicht legitimierten Einflusszonen des wachsenden Lobby-Marktes.

Lobbyismus ist die organisierte Beeinflussung von Entscheidungsträgern gegenüber Regierung, Parlament, politischen Akteuren und Medien. Ziel des Lobbyismus ist die möglichst lautlose Durchsetzung wirtschaftlicher und politischer Interessen in informellen Verhandlungen mit Politikern in Regierung, Ministerialbürokratie und Parlament. Im Kern geht es um die Beeinflussung oder die Verhinderung von politischen Vorhaben. Das Spektrum der eingesetzten Mittel und Instrumente zur Durchsetzung dieser Ziele – von legitimen Anhörungen bis zu negative campaigning oder direkten Absprachen in Grauzonen und Platzierung von Strohmännern im Regierungs-Apparat – ist schier unbegrenzt.

Die Infrastruktur des Berliner Lobbyismus

Die Vertreter der 2.110 (Stand 2011) beim Bundestag eingetragenen Lobbyorganisationen haben mehr als 4.500 Ausweise erhalten , die ihnen den freien Zugang im Bundestag ermöglichen. Die Lobbyisten haben sich in den vergangenen Jahren weiter professionalisiert. Hintergrundgespräche mit zentralen Akteuren und die Auswertung interner Strategiepapiere bestätigten die These, dass die Top-Lobbyisten in der Regel mit besseren Ressourcen ausgestattet sind als etwa Parlamentarier, Fraktionen und Ministerbüros.

Ein besonderes Kennzeichen der Branche ist die hochkarätige Repräsentanz aller parlamentarischen Farben – von Schwarz, Rot, Gelb bis zu Grün –, die den Mitarbeitern der potenten Lobby-Büros in Berlin und Brüssel den direkten Zugang zu ihren Adressaten ermöglicht. Perfekt vernetzte Lobbyisten benötigen keinen illegalen Datenzugang; sie werden frühzeitig mit allen Informationen und Gesetzestexten von Politikern versorgt.

Erfahrene Lobbyisten aus dem einflussreichen Kreis des Collegiums, in dem sich 39 Vertreter vor allem der DAX-Unternehmen jenseits öffentlicher Beobachtung koordinieren, sehen folgenden Trend: „Es gibt einen Generationswechsel. Jüngere Lobbyisten verfolgen mit einem punktgenauen, eher technokratischen Stil ihren jeweiligen `business case´.“

Den Prozess steuern

Business case – so die heutige Praxis-Definition von Lobbyisten – ist die gezielte Einflussnahme auf Parteien, Parlament und Regierung mit dem Ziel die eigene Gestaltungs- und Verhinderungsmacht im Gesetzgebungsprozess mit allen Mitteln auszuspielen. Zentrales Anliegen der Lobbyisten ist es, alle Faktoren, Rahmenbedingungen und Akteurskonstellationen eines Entscheidungsfindungsprozesses frühzeitig zu identifizieren und entsprechend zu steuern.

Bilanziert man die Einschätzungen führender Lobbyisten, so kann man festhalten, dass die Beschaffung von Exklusiv-Informationen, der Aufbau von Kontakten zu Spitzenakteuren und Meinungsführern in der Politik mit dem Ziel der Verhinderung oder Mitgestaltung von Initiativen und Gesetzen die Arbeit bestimmt. Lobbyisten verstehen sich als Vetospieler mit beachtlicher „Feuerkraft“, die zudem die Klaviatur der Medienkooperation und Beeinflussung beherrschen.

Die traditionell eingespielte Kooperation und selbstverständliche Dienstleistungserwartung vieler Politiker sowie der meist überhöhte Respekt von Ministerialbürokratie, Regierungsvertretern und Abgeordneten haben in den vergangenen Jahren den Blockade- und (Gestaltungs)-spielraum der Lobbyisten weit ausgedehnt.

Diese reibungslose, oft symbiotische Zusammenarbeit wurde auch durch eine schleichende Veränderung des „Geschäftsmodells Politik“ unter der Rot-Grünen Bundesregierung forciert. Wer in den Fraktionen Top-Kontakte zu Lobbyisten pflegt und über einen Direkt-Zugang verfügt, steigt in der Fraktionshierarchie auf. Zielkonflikte sollten nicht gegen die Industrie, sondern von Anfang an mit ihr möglichst im Konsens geregelt werden.

Die zunehmende Komplexität von Politikfeldern, die oft verwirrende Rechtslage, die wachsende Expertokratie und die internationale Verflechtung förderte zudem die selbstverständliche Akzeptanz von Lobbyvertretern. Deren Votum wurde und wird von Entscheidungsträgern auch als „Kläranlage der Vielstimmigkeit“ und als „Frühwarnsystem“ wahrgenommen, um vorab das zu erwartende Protest- und Klagepotential der betroffenen Wirtschafts-Sektoren auszuloten.

Das Muster der Argumente

Lobbyisten arbeiten stets mit einem ähnlichen Instrumentarium und einem überschaubaren Set an grundsätzlichen Argumenten. Dazu gehören:

* frühzeitige Beschaffung a l l e r vertraulichen und „geheimen“ Informationen und Referenten-Entwürfe zum jeweiligen Fachgebiet sowie Präsentation direkter Reaktionen von Einzelkorrekturen b i s zur Neufassung von Gesetzen und Initiativen; Auslotung juristischer Gegenwehr für die jeweilige Argumentation nach dem Prinzip „Zuckerbrot und Peitsche“.

Instrumentalisierung von vertrauten Kontaktpersonen auf allen politischen Ebenen. Im Gesundheits- und Umweltministerium sind politische Spitzenfunktionen mit (ehemaligen) Lobbyisten besetzt.

* Aufbau eines dichten Kontaktsystems zum Umfeld der handelnden Spitzenakteure, der Verbände, der Fachleute in Wissenschaft und Medien.

* engste Tuchfühlung und intensive Kontaktdichte mit allen politischen Akteuren, um jederzeit interventions- und kontaktfähig zu sein; Aufbau und Pflege von Interventions-Personen in Parteien, Fraktionen und Regierung, die in akuten Konfliktsituationen unbürokratisch und „zeitnah“ den Zugang zum jeweiligen politisch verantwortlichen Spitzenpersonal herstellen können.

* Betonung des TINA-Prinzips („there is no alternative“) – als Grundachse der gesamten Kommunikation in Konfliktfragen um vermeintliche oder tatsächliche Belastungen für die jeweilige Branche oder den Wirtschaftsstandort Deutschland.

* der Drohung mit Arbeitsplatzverlusten oder Verlagerung von Jobs ins Ausland, begründet mit der Gefährdung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit. Abgeordnete aus den Wahlkreisen großer Industriefirmen sind hier die erste Adresse.

* der Drohung, Forschung und Entwicklung zu reduzieren und ins Ausland zu verlagern.

* der Drohung mit öffentlichen Kampagnen, besonders vor wichtigen (Wahl-)Terminen die Regierung anzugreifen sowie mit rigiden Medienangriffen oder den schonungslosen Mitteln des negative campaignings, – also der gezielten Reputationsschädigung etwa über flächendeckende Anzeigenschaltungen – zu reagieren.

* der Fähigkeit und Bereitschaft, Konflikt-Diskurse in der Öffentlichkeit über den besonderen Zugang und die sogenannte orchestrierte Kommunikation zu initiieren. Lobbyismus ist ohne die intensive Kooperation mit den Medien undenkbar. (4)

Die Verfassung will die Mitwirkung

Demokratie, verstanden als „Herrschaft des Volkes“, ist in Deutschland wesentlich durch die Bestimmungen des Grundgesetzes geprägt. In Artikel 20 heißt es einfach und klar: „Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat.“ (Art. 20) Volkssouveränität, Repräsentativsystem, Mehrheitsprinzip und natürlich das Pluralismusprinzip sind hier verankert. Artikel 9 des Grundgesetzes sagt: „Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden.“

Aus diesem Artikel können Interessenverbände und Lobbygruppen ihre Beteiligungsrechte ableiten, sofern ihre „Zwecke und Tätigkeiten“ nicht den Strafgesetzen zuwiderlaufen. Die Geschäftsordnungen des Bundestages und der Bundesregierung sehen die Mitwirkung von Interessenverbänden ebenfalls vor.

Mit Stellungnahmen, in Anhörungen oder Enquete-Kommissionen können sie ihre Positionen formal einbringen. Die sehr unterentwickelten demokratietheoretischen Debatten rund um die Anatomie und Wirkkraft des Lobbyismus sind meist vom jeweiligen normativen Standort geprägt.

Folgende Merkposten illustrieren die wesentlichen Konfliktdimensionen:

– Die Mehrheitsmeinung vor allem in der Parlamentarismus-Forschung betrachtet Lobbyismus – wenn auch unausgesprochen – als notwendiges Gegengewicht zur ausufernden Macht des Parteienstaates. Über die Aktivitäten der Lobby würden die sonst unterrepräsentierten Argumente vor allem der Wirtschaft als Kontrollfilter im politischen Entscheidungsprozess wirken. Diese normativen Aussagen stehen im direkten Kontrast zum zunehmend kritischen Meinungsbild der interessierten Bürgerschaft.

– Die Tatsache, dass Interessengruppen in der Praxis keineswegs gleichgewichtig vertreten sind, findet bei den Lobbyismus-Befürwortern kaum Beachtung. Jene Gruppen, die sich nicht oder nur marginal organisieren lassen, etwa von Initiativen, Vertretern der Zivilgesellschaft und sozialen Bewegungen, sind gegenüber finanz- und ressourcenstarken Lobby-Organisationen strukturell benachteiligt. Das Grundproblem der Asymmetrie der Organisations-Ressourcen und Zugänge zu den „Entscheidern“ blenden die Befürworter eines unbegrenzten Lobbyismus meist aus. Diese Asymmetrie verstärkt jedoch die ohnehin gravierenden Ungleichgewichte: Starke Interessen werden in diesem Prozess stärker, schwächere Interessen dadurch noch schwächer.

– Für die theoretische Annahme, die miteinander konkurrierenden Interessen glichen sich aus und das Gemeinwohl werde nicht beeinträchtigt, sondern ausbalanciert, gibt es keine belastbaren Belege; die Durchsetzung oder Beachtung von (meist wirtschaftlichen) Partikular-Interessen –wie im Fall der seit mehr als drei Jahren verhinderten Bankenregulierung – dient nicht automatisch dem Gemeinwohl.

– Die innere Ordnung der Lobby-Organisationen müsste demokratischen Ansprüchen und Standards genügen, um sich überhaupt auf das Pluralismus-Prinzip stützen zu können. Von Parteien und ihren Mandatsträgern werden Finanzberichte, Nebentätigkeitserklärungen und öffentliche Parteitage sowie umfassende Öffentlichkeit als selbstverständlich vorausgesetzt.

– Die häufig vorgetragene Hypothese, der Einfluss der Lobby entziehe sich auf Grund der systemimmanenten Notwendigkeit von Diskretion und Vertraulichkeit der öffentlichen Kontrolle, ist fragwürdig. Denn Pluralismus funktioniert nur auf der Grundlage von Kontrolle, Transparenz , Öffentlichkeit und Beteiligung. Diese zentralen Leitbilder werden jedoch von mächtigen Lobby-Gruppen explizit ausgeblendet. Organisierte Interessen verlangen also demokratisches Gehör und prägenden Einfluss auf die Gesetzgebung, obgleich sie die demokratische Mindeststandards –nämlich Transparenz, Öffentlichkeit und Beteiligung – für sich selbst explizit ausschließen. Aus diesem Spannungsverhältnis wächst ein massives Legitimationsdefizit der Gestaltungsansprüche des Lobbyismus.

Die Bedingungen von Pluralismus

Sehen wir uns die pluralistische Landkarte im Idealzustand an: Pluralismus als zentrales Leitbild moderner Demokratien kennzeichnet demnach ein System, in dem die Zentrierung politischer und staatlicher Macht durch die Schaffung eines Gestaltungsraums für Gegenmacht eingehegt und „gezähmt“ werden soll.

Im Idealfall ist staatliches Handeln ein Resultat des öffentlich ausgetragenen Meinungskampfes, des politischen Ideen-Wettbewerbs und der transparenten Beteiligung von Lobbygruppen an Entscheidungen von Parlament und Regierungen. Eine offene, argumentative Auseinandersetzung zwischen den Interessengruppen ist zudem wesentlicher Teil der politischen Willensbildung, die vom Pluralismus der Interessen getragen wird. Soweit die Theorie.

In dieser Grundierung des Lobbyismus wird jedoch ein wesentlicher Kritikpunkt vernachlässigt: Wie ist der selbstgesteckte Anspruch des gelungenen, für die Bürger nachvollziehbaren Interessenausgleichs zu bewerten, wenn Lobbygruppen diese Grundannahmen nicht erfüllen? Wenn sie im Stillen wirken, anonym agieren, beträchtliche geheim gehaltene Ressourcen zur (medialen) Flankierung ihrer Einflusszonen nutzen und sogar Lobbyinteressen verpflichtete Vertreter in Regierung und Parlament platzieren? Wenn sie jede Rückfrage mit Hinweis auf die Vertraulichkeit ihrer Geschäftspolitik abwehren?

Was viele Abgeordnete gelegentlich hinter vorgehaltener Hand zugeben, verschweigt die zunehmend mächtigere und selbstbewusster auftretende Lobby. „Unsere Arbeit ist prinzipiell nicht öffentlichkeitsfähig“, bekennt ein führender Lobbyist des Chemie-Riesen Altana.

Ein anderer Lobbyismus-Profi, Peter Köppl sagt frank und frei: „Lobbying ist vom Grundgedanken her `non-public´.“

In der Ungewissheitszone

Weil Lobbyisten grundsätzlich nicht und nur in sehr seltenen Ausnahmen über ihre Arbeit sprechen und auch Politiker einen realistischen Einblick in den parlamentarischen Maschinenraum verweigern, entsteht in den Öffentlichkeit eine merkwürdige Melange aus gleichzeitig festzustellender Übertreibung und Untertreibung des Lobby-Einflusses.

Zentraler Vorwurf: Öffentlichkeit ist für die Demokratie schlichtweg konstituierend. Es gehört aber zur DNA des Lobbyismus quasi klandestin und in wichtigen Fragen de facto konspirativ zu arbeiten –also wie ein Geheimdienst. Offiziell wird das mit der gebotenen Vertraulichkeit begründet, tatsächlich geht es um die Wahrung des Grundsatzes: Macht ist die Schaffung von Ungewissheitszonen. Die Nicht-Öffentlichkeit sichert die Handlungsspielräume und Entscheidungsoptionen aller Beteiligten.

Indem sich die Lobbyisten als „Vetospieler“ im parlamentarischen Prozess von der Öffentlichkeit und damit von der öffentlichen Kontrolle absetzen, verstoßen sie gegen ein grundlegendes demokratisches Prinzip. Mit diesem Arbeitsprinzip verwirken sie dann aber das Recht, sich auf pluralistische Beteiligungsrechte zu beziehen, deren Grundprinzipien sie ja explizit ablehnen. Denn Pluralismus kann nur funktionieren, wenn deren Akteure öffentlich agieren und die Bürger im Zweifelsfall nachvollziehen können, wer, was und wie politisch durchsetzt. Hier hätte die Politik die Verantwortung den Einfluss des ungezügelten Lobbyismus zu thematisieren und mit eindeutigen, wirksamen Regeln einzugrenzen und zu kontrollieren.

Gegen die Prinzipien des Pluralismus

Zur Beantwortung der zentralen Spannungsfrage zwischen legitimer Mitwirkung im Meinung- und Entscheidungsmarkt und illegitimer Einflussnahme, sind folgende Argumente zu berücksichtigen: Die „etablierte“ Pluralismus – Literatur geht von einer naiv-folkloristischen Betrachtung aus, ohne den konkreten Lobby-Einfluss in den einzelnen Politikfeldern auszuloten.

Tatsächlich hat sich Ausmaß, Intensität, Ressourcen-Ausstattung und Professionalität des Lobbyismus in den vergangenen Jahren so stark verändert, dass die im Rahmen der pluralistischen Aushandlungsdemokratie unterstellten Vorteile für das politische System sich längst zu einem demokratischen Malus entwickelt haben.

Die indirekten Effekte eines einflussreichen, unregulierten Lobbyismus, nämlich die gezielte Schwächung und Imageverletzung von (geschwächten) Parteien, (ausgezehrten) Parlament und (überforderter) Regierung, wird im Zuge der Banken- und Finanzkrise intensiver öffentlich wahrgenommen. Die eingeführten Argumentationsmuster der Lobby gegenüber Politik und Parlament verlieren zunehmend ihre „Feuerkraft.“ Auf die wiederholten Klischees: „Die unfähigen, überforderten Politiker, die langwierigen Entscheidungen, die überbordende Bürokratie, die hohen Diäten ...“ folgen immer häufiger gezielte Rückfragen zu den Ursachen und Wirkungen dieser Tendenzen.

Die genauen Gründe für die programmatische und personelle Auszehrung der politischen Klasse, den weitgehenden Verlust der Artikulationsfunktion des Parlaments, die reduzierte Integrationsfunktion und die freiwillige Abhängigkeit von den Vorgaben der Regierung und der Administration werden in der öffentlichen Debatte nicht mehr ausgeblendet.

Gefahr für den Rechtsstaat

Das über Jahrzehnte zementierte Bild des mit dem Parlament quasi naturwüchsig verwobenen Lobbyismus bekommt nun zunehmend Risse. Der Grund: Die Macht der Lobbyisten wird immer mehr Bürgern, aber auch Politikern und Verfassungsrichtern im Schatten der Finanz- und Wirtschaftskrise unheimlich. Der Einfluss der Lobbyisten wirft für viele Menschen die Frage auf, in welchem Maße die etablierte Politik freiwillig ihre Autonomie aufgibt und damit klassische parlamentarische Aufgaben ohne Not geschwächt werden? Diese Entwicklung wird schon seit längerem auch vom Bundesverfassungsgericht registriert. „Verfassungsrichter Papier warnt vor Lobbyismus“ titelte ausgerechnet die Börsenzeitung Anfang März 2010. Diese brisante politische Bilanz des Ex-Verfassungsgerichtspräsidenten (BVG) mit der Kernthese „Lobbyismus ist eine latente Gefahr für den Rechtsstaat“ hätte die politische Klasse in Berlin eigentlich alarmieren müssen. Aber das Interview des konservativen, mit hoher Reputation ausgestatteten Verfassungsrichters schaffte es nicht einmal in die Agenturen oder die Pressespiegel der Parteien. Die Politik könne sich natürlich den Lobbyisten zu „Informationszwecken“ bedienen, räumt Papier ein. „Übertreibungen sollte man allerdings Einhalt gebieten und insbesondere die inhaltliche Formulierung der Gesetze in der Hand der Politik und vor allem des Parlaments und der Regierung belassen. Bürger wählen ja ein Parlament, damit dieses Gemeinwohlinteressen und nicht Partikularinteressen vertritt.“ Papiers Kollegin, die frühere Verfassungsrichterin Christine Hohmann-Dennhardt spricht in diesem Zusammenhang von einer „schleichenden Unterwanderung der demokratischen Entscheidungsfindung.“ Sie richtet den Focus ganz besonders auf die zahlreichen externen Kommissionen der Regierung, die jüngst -nach einer Phase der Eindämmung- nach Einschätzung politischer Beobachter wieder florieren.

Methoden-Mix der Lobbyisten

Sechs grundlegende Tendenzen haben in den vergangenen Jahren das Macht- und Gefahrenpotential des Lobbyismus öffentlich sichtbarer gemacht und eine spürbare Nervosität in Teilen der politischen Klasse ausgelöst. Zwar ist derzeit noch keine politische Leitfigur erkennbar, die die gebündelte Kritik öffentlich wirksam artikuliert. Aber im Zuge der selbst von selbstkritischen Lobbyisten aus dem Bankensektor diagnostizierte „Über-Lobbyierung“, wird es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis es soweit ist. Dabei werden folgende Aspekte bedenklicher Lobby-Aktivitäten eine wesentliche Rolle spielen:

Erstens: Die Formulierung von Gesetzen, von Verordnungen oder Textbausteinen für Gesetze durch externe Anwaltskanzleien, stellen die Gesetzgebungskompetenz des Parlaments in Frage. Teilweise wurden Kanzleien beauftragt, die gleichzeitig von diesen Gesetzen direkt betroffene Mandanten –etwa aus dem Banken- oder Energiesektor- vertreten. In der vergangenen Legislaturperiode waren Großkanzleien an mindestens 17 Gesetzes- und Verordnungsentwürfen beteiligt. Ein Rettungsschirm zur Wahrung der Interessen der Finanzindustrie. Das Gesetz zum Geschäftsmodell von Hedge-Fonds wurde von Vertretern des Bankenverbandes im Finanzministerium selbst formuliert.

Zweitens: Die Platzierung von so genannten „Leihbeamten“ in den Ministerien. Dieser vom früheren Personalvorstand der Deutschen Bank und dem damaligen Innenminister Otto Schily eingefädelte „Seitenwechsel“ wurde im April 2008 in einem Bericht des Bundesrechungshofs akribisch dokumentiert und das entsprechende „Risikopotential“ für die Unabhängigkeit der staatlichen Verwaltung taxiert. Über den Haushaltsausschuss wurden die Ministerien nach einer langwierigen öffentlichen Diskussion gezwungen, diese zweifelhafte Lobby-Referenten aus der Industrie wieder auszumustern. Scheinbar ging danach alles seinen parlamentarischen Gang: Das zuständige Innenministerium muss dem Haushaltsausschuss regelmäßig berichten, welche Lobbyisten noch in den Ministerien arbeiten. Doch selbst diese „amtlichen“ Berichte sind lückenhaft und unvollständig.

Drittens. Der direkte Wechsel von mehreren Spitzen-Lobbyisten aus der Atomindustrie, der Privaten Krankenversicherungen und der Finanzwirtschaft in Leitungsebenen verschiedener Ministerien der christlich-liberalen Koalition wurde zum Normalfall erklärt. Die bruchlose Platzierung von Top-Lobbyisten in Top-Positionen etwa als Abteilungsleiter an der Spitze von Ministerien nährte den Verdacht der offenen Klientelpolitik und der Verlagerung von Lobbymacht i n die politische Administration.

Viertens. Fragwürdige Praktiken der Politikfinanzierung über Sponsoring, Spenden, bezahlte Reden führte zum weit verbreiteten Eindruck, dass Lobbyisten sich den Zugang zur Politik über eine „gezielte Landschaftspflege“ kaufen können. Die Ausdehnung dieser Grauzone in Verbindung mit der Praxis der Politikfinanzierung katalysiert die auf anderen Feldern wahrgenommene Ausdehnung des Lobby-Einflusses. Der Fall „Mövenpick“ und die gleichzeitige Verkürzung der Hotelsteuer bleibt sozusagen exemplarisch in Erinnerung.

Fünftens. Der direkte Wechsel von Ministerpräsidenten, Ministern, Staatssekretären und Spitzenpolitikern als Lobbyisten und Berater –ohne Abkühlungsphase – in Lobby-Positionen der Industrie hat in den vergangenen Jahren massiv zugenommen.

Sechstens. Die offensiv von den Banken geforderten und von der Politik in einem atemberaubenden Tempo realisierten hunderte milliardenschweren „Rettungs-Aktivitäten“ im Zuge der Finanzkrise oder die verstärkte Finanzierung des „notleidenden Gesundheitssystems“ aus Steuermitteln haben tiefe Zweifel hinterlassen. Die Ergebnisse dieser Politik vermitteln zunehmend den Eindruck, dass die „Lobby als Fünfte Gewalt“ Spitzenpolitiker und Parlamentarier in der Wirtschaftskrise massiv unter Druck gesetzt, attackiert und so zu günstigen Entscheidungen für einzelne Interessengruppen bewegt hat.

Wie weiter?

Dies alles zeigt, dass es in Deutschland erhebliche Transparenz- und Informationsdefizite im Zusammenhang mit dem Lobbyismus gibt. Die folgenden Vorschläge sind möglicherweise geeignet, die „Privatisierung der Demokratie“ zu verhindern.

Erstens: Der Bundestag sollte einen „Lobby-Beauftragten“ bestellen, der –analog zu den Rechten des Wehrbeauftragten – alle hier skizziertenTendenzen beobachtet und in einem Jahresbericht bewertet. Diese Funktion könnte beispielsweise ein erfahrener Parlamentarier übernehmen.

Zweitens: Gesetze aus der Mitte der Bundestagsfraktionen müssten künftig ausschließlich von den Parlamentariern geschrieben und verantwortet werden. Das gleiche gilt für die Bundesregierung. Gesammelter „Sachverstand von außen“ und „Expertise“ der Fachkreise müssen Abgeordnete und Mitglieder der Bundesregierung selbst fachlich prüfen und gewichten. Die Ressourcen dafür stehen ihnen über die Fachausschüsse und den wissenschaftlichen Dienst zur Verfügung.

Allen Gesetzen sollte ein Deckblatt beigefügt werden, dass die „legislativen Fußspuren“dokumentiert, die Lobbyisten mit ihren Gesetzes-Formulierungen hinterlassen haben. Dieser wirksame Selbstschutz wird selbst von führenden Lobby-Organisationen wie dem Verband der forschenden Arzneimittelhersteller unterstützt.

Die Regelung des bruchlosen Wechsel von Regierungsfunktionen in den Lobbyismus – kann ebenfalls nicht unreguliert bleiben. Nicht umsonst wurde für Mitglieder in Parlament und Regierung das System der so genannten „Übergangsgelder“ sowie auskömmliche Pensionsregelungen beschlossen. Schließlich muss auch der Umgang der Ministerialbürokratie mit Lobbyisten normiert werden. Da einige Ministerien – wie etwa das Verteidigungsministerium- hier bereits sinnvolle Regelungen vorgenommen haben, ist kein Grund ersichtlich, warum diese wichtige Klärung von anderen Ministerien weiter ignoriert werden kann.

Drittens. Die Lobbyisten müssten ihre geheime Hinterzimmerpolitik und ihre tradierte Kultur der Intransparenz aufgeben. Sie müssen selbst die Grenzen ihrer Arbeit in einem eigenen Kodex definieren. Sie sollten darin verbindlich auf illegale Einflussnahme, auf politischen Druck gegen Abgeordnete und politische Akteure, auf frisierte Studien oder gar die Gewährung von Privilegien und Spenden an potentielle Partner in der Politik verzichten. Über ihre Arbeit und ihre Spuren im Politik-Beeinflussungs-Prozess sollten sie öffentlich berichten, damit die Macht der „Fünften Gewalt“ wenigstens in Ansätzen überprüfbar und transparenter wird.

Viertens. Bürger und Bürgerinnen müssten auf allen denkbaren Diskurs-Foren den Einflussverlust des Parlaments bei gleichzeitigem Machtzuwachs der Lobby gegenüber „ihren“ Abgeordneten konkret ansprechen, etwa im Wahlkreis oder auf öffentlichen Veranstaltungen. Allen Verantwortlichen muss klar werden: Der Beruf des Abgeordneten ist eine Ehre in der Demokratie und keine Plattform zur Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen.

Fünftens: Um die Asymmetrie zwischen den Möglichkeiten der „Wirtschaft“ und der „Zivilgesellschaft“ auszugleichen, müssen Fonds zur Verfügung stehen, die die Finanzierung von externen Sachverstand garantieren. Die Bedeutung der unabhängigen Gegenexpertise und des wissenschaftlichen Faktenchecks wird künftig immer wichtiger, um Verhandlungsprozesse und den Austausch von Argumenten rational zu unterlegen. Im Zusammenhang mit den Anhörung zu „Stuttgart 21“ wurde dieses Modell in bescheidenen Ansätzen bereits praktiziert.

Politik, hat Max Weber einst geschrieben, sei wie das Bohren dicker Bretter. Beim Lobbyismus hat man es nicht mit Holz, sondern mit Stahlbeton zu tun.

Thomas Leif ist Journalist, Film- und Sachbuchautor. Er morderiert die SWR-Talkshow 2+Leif. Zuletzt erschien von ihm das Buch: Beraten und verkauft, McKisney & Co. – der große Bluff der Unternehmensberater, Goldmann-Verlag

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