Debatte ist gut, Verrohung der Debatte nicht – mit dieser Formel hat Bundesinnenminister Thomas de Maizière kürzlich versucht, die teilweise hysterische Debatte rund um das Flüchtlingsthema wieder einzuhegen. Indirekt räumte er ein, dass der Alarmismus nach den Kölner Silvester-Ereignissen vollkommen aus dem Ruder gelaufen ist. „Es darf keine Schweigespirale geben. Alle Fakten müssen auf den Tisch – nur dann wird die Debatte auch beherrschbar bleiben.“ Der Innenminister wünscht sich also eine „beherrschbare Debatte“. Nur: Nicht einmal die beiden Grundbedingungen seiner Botschaft können überzeugen. Weder gibt es derzeit in Deutschland eine Schweigespirale, sondern eher eine faktenfreie Meinungsdiarrhö. Noch kann auch nur ansatzweise die Rede davon sein, dass die politische und mediale Klasse bereit wäre, der Ansage „Alle Fakten müssen auf den Tisch“ zu folgen.
Drei Wochen nach den Kölner Gewaltexzessen gibt es immer noch kein klares Lagebild. Die Frage, warum die Polizei in einer Beobachterposition verharrte, anstatt einzugreifen, wurde bislang noch nicht ernsthaft aufgerufen. Stattdessen überbieten sich Politiker auf dünner Faktenbasis mit haltlosen Vorschlägen zur Verschärfung des Asylrechts, beschleunigten Ausweisungen und allerhand obskuren Ferndiagnosen. Offenbar wollen die Spitzen- und Fachpolitiker mit harter Symbolpolitik die diffuse Lage wieder „beherrschbar“ machen. Ihre Vorschläge zielen alle in die gleiche Richtung. Mut zum Diskurs – Fehlanzeige. Sie setzen auf das Prinzip der Eindruckserweckung („Wir handeln entschlossen“) und betreiben gleichzeitig die Verrohung der Debatte, die sie angeblich eindämmen wollen.
Diffuser Konsens
Ein ernsthafter, zielführender Diskurs wird so frühzeitig abgewürgt oder gar verhindert. Ein Muster, das man leider immer öfter feststellen muss. Das soll Paradoxien und Fehlentwicklungen in der politischen Debatte übertünchen. Denn immer öfter geht der konstruktive Meinungsstreit entweder im Schlachtgetümmel unter, oder er versiegt in einem diffusen Konsens. Die Folge dieser ebenso mutlosen wie geistig abgeschlafften Debattenkultur: Demokratische Grundprinzipien stehen zur Disposition. Was aber sind die Motive dafür?
Carsten Linnemann und Jens Spahn gelten in der CDU als Hoffnungsträger, als Politiker der jüngeren Abgeordnetengeneration, die sich jenseits der entkernten Union noch eine „zukunftsgerichtete“ Politik vorstellen können. Die (interne) Beschäftigung mit Alternativen zur vor gut einem Jahr beschlossenen Rentenpolitik machte die leisen Opponenten in der Union zu Ausnahmeerscheinungen. Bereits Mitte 2014 hatten der Vorsitzende der Mittelstandsvereinigung Linnemann und der zu dieser Zeit ambitionierte Gesundheitspolitiker Spahn wachsweiche Thesen als Gegenentwurf zur Politik der Großen Koalition veröffentlicht. Mit der vorsichtigen Präsentation einiger Argumente für eine ausbalancierte Politik der Generationengerechtigkeit war jedoch ihre Bereitschaft zum Konflikt mit der Kanzlerin bereits ausgereizt.
Nicht nur die beiden Nachwuchspolitiker empfinden Merkels kalkulierte Klientelpolitik für die älteren Wähler als eine Art Hypothek, die sie als politische Erben später teuer bezahlen müssen. Aber: Sie wollten nur „kontrolliert anecken, ohne sich in einer rituellen Fundamentalopposition zu vernörgeln“, wie die Zeit korrekt beobachtete. Diese politische Signatur einer ganzen Generation muss man noch einmal in ihre Bestandteile zerlegen, um die Wirkung ihrer negativen Utopie in der ganzen Tragweite zu verstehen. „Kontrolliert anecken“, ohne sich rituell zu „vernörgeln“: Das klingt nach freiwilliger Kapitulation aus Angst vor der persönlichen Entsorgung. Ähnlich denken nicht nur die Leisetreter des konservativen „Berliner Kreises“ in der CDU, sondern auch die versprengt-verfeindeten Mitglieder sozialdemokratischer Subgruppen und selbst führende Flügelfiguren der Grünen. Eine kontroverse Debatte, argumentativ unterlegt, programmatisch fundiert und als Diskursprozess angelegt – das gilt unter ambitionierten Politikern aller Schattierungen als nutzloses Unterfangen oder gar als kalkulierte Karrierevernichtung.
In Fall Jens Spahn ist das Gegenteil eingetreten. Seine kalkulierten öffentlichen Interventionen und eine Kampfkandidatur haben ihn ins CDU-Präsidium gehievt und als Staatssekretär etabliert. Ein von ihm herausgegebener schmaler Sammelband zur Flüchtlingspolitik fand eine ungewöhnlich starke Resonanz. Dosierte Diskurspolitik ist in diesem Fall also sogar mit einer Machtprämie verbunden. Doch insbesondere von der jüngeren Politikergeneration sind kaum Aufbruchssignale oder Gegenentwürfe zu vernehmen. Die jüngsten ernst zu nehmenden Proteste richteten sich gegen Studiengebühren, nicht etwa gegen die „Bildung Bolognese“, die nach zwei Jahrzehnten die Universitäten zu einem bürokratischen Punktesammelsystem degradiert hat. Die zunehmende Vergreisung des Parlamentsbetriebs mag diesen Trend noch forcieren. Der Anteil der Parlamentarier unter 40 Jahren ist erneut geschrumpft – auf heute knapp 18 Prozent. In der Periode zuvor waren es immerhin fast 21 Prozent. In den Länderparlamenten ist die repräsentative Schieflage noch markanter. Wenn man die erfahrenen Parlamentarier nach jungen Talenten fragt, folgt fast immer Schweigen. Bei der Bundestagswahl 2017 wird die Generation 55 plus die Mehrzahl der Wähler stellen. Schon heute gibt die Generation 55 plus nicht nur in SPD und Union den Ton an. Weil die Jüngeren tendenziell wahlmüder und gleichgültiger sind, wird sich dieser Effekt noch verschärfen.
Sauerstoff der Demokratie
Absehbar wird die Generation 55 plus die Agenda der Wahlversprechen bestimmen. Der strittige Austausch von Argumenten zu den vordringlichen Konfliktthemen – nicht nur zu Flucht und Asyl – soll explizit ausgeklammert werden. Solche Debatten hemmen die Entscheidungsfreude und gelten im nervösen Tagesbetrieb als lästig und störend. Dahinter steckt die Meinung, dass Streit in der Sache, also der Sauerstoff der Demokratie, nur dem eigenen Lager schade und der Konkurrenz nutze. Mit diesem unverrückbaren Glaubenssatz amputiert sich eine argumentierende Politik selbst. Sigmar Gabriel begründete seine Abwesenheit auf dem jüngsten Juso-Kongress ernsthaft damit, dass er ARD und ZDF keine Vorlage für Berichte zu Streit in der SPD habe liefern wollen.
Von der gebetsmühlenartig zitierten Zivilgesellschaft war in der Debatte um die künftige Rentenpolitik ebenfalls wenig zu hören. Auch in weiteren politischen Konfliktthemen – von der Pflegereform über den angefeindeten Mindestlohn bis zum Bologna-Flop – ist die Stimme der Zivilgesellschaft höchstens leise, meistens jedoch kaum vernehmbar. Luise Frank, die Pressereferentin des BUND Bayern, hat stellvertretend für die meisten Nichtregierungsorganisationen ihr Verständnis von öffentlichen Debatten und Lobbyismus in den sozialen Medien formuliert: „So können wir für den Verband und unsere Interessen ein permanentes Grundrauschen erzeugen.“ Grundrauschen – statt strategisch angelegter Diskurs. Debatten leben aber von dem vernehmbaren Widerspruch im Wechselspiel von parlamentarischen und außerparlamentarischen Akteuren. Dieser Austauschprozess ist jenseits von kurz auflodernder Empörung ermattet. Außerparlamentarische Akteure haben keinen Resonanzboden mehr in Parteien und Parlament. Die TTIP-Demonstration in Berlin Ende vergangenen Jahres mit weit über 150.000 Teilnehmern hatte weniger Resonanz als der wiederholte Montagsaufmarsch einiger tausend Pegida-Anhänger in Dresden.
Sedierte Gesellschaft
Wie in anderen Politikfeldern – etwa dem verschleppten Einwanderungsgesetz oder der bigotten Flüchtlingspolitik – wird jeder kritische Zukunftsdiskurs sorgfältig eingehegt. Die versäumte Einwanderungspolitik ist ein langsam wirkendes Vertrauensvernichtungsprogramm. Nicht nur mit Blick auf Tauglichkeit und Fairness. Sie treibt auch einen Keil zwischen die schon heute Abgehängten und dem neuen Prekariat. Die Flüchtlingspolitik zwischen sonntäglichem Willkommen und werktäglicher Repression steht nur als Platzhalter für weitere ungelöste Großthemen – von der notleidenden Bildung bis zur Chancengleichheit, von Verteilungsgerechtigkeit bis zur Mobilität. Heiner Geißlers Credo, dass man stets Streit in einer wichtigen Sache anfangen müsse, hat nicht nur im konservativen Milieu seine Gültigkeit verloren. Der Verzicht auf Streit in der Sache gilt mittlerweile als höchste politische Tugend. Gefragt ist der kieselsteinglatte Politikertyp, der Konfliktkanten frühzeitig wegschmirgelt, Streitthemen ausklammert und im präsidialen Habitus mit wolkigen Versprechungen Brücken zwischen den Lagern baut. Streit in der Sache setzt eine Haltung voraus und erfordert Fachkenntnisse. Zudem ist Streit immer risikoreich, weil die Folgen der Auseinandersetzungen innerparteilich und im Konkurrenzkampf der anderen Parteien nicht kalkulierbar sind.
Risikovermeidung als professionelles Prinzip führen noch zu einer weiteren Konsequenz, die aus Sicht vieler Bürger prägend ist: die Nutzung gezielt unverbindlicher, mehrdeutiger Positionen und Formulierungen. Alle Positionen müssen vermeintlich klar klingen, aber stets die eine Exit-Chance bereithalten. Flüchtlings-„Obergrenzen“ verdunsten auf Parteitagen in interpretationsfähige Nebensätze. Auch diese Grammatik der Politik kontaminiert einen argumentierenden Diskursstil und begünstigt die Sehnsucht nach einfachen Parolen auf porösen Ressentimentfundament.
Die belgische Philosophin Chantal Mouffe fordert in ihrem Buch Agonistik: Die Welt politisch denken dagegen einen Wettstreit der politischen Akteure um Positionen und Argumente; sie plädiert für weniger Konsens, weil dieser die Nivellierung politischer Unterschiede fördere und schließlich zu Apathie und Entfremdung der Bürger führe. Nils Minkmar hat diesen lähmenden Gemütszustand der Deutschen in seinen Beobachtungen rund um den Wahlkampf Peer Steinbrücks 2013 in Der Zirkus als Milieustudie unterlegt. Die Passivität der politisch sedierten Gesellschaft gilt nicht nur im Feld der Flüchtlingspolitik, sondern prägt fast alle Politikfelder. Mustert man diese, muss man bilanzieren, dass Absichtserklärungen, Ankündigungen und der Verweis auf leere Kassen und die Schwarze Null den Kommunikationsbetrieb kennzeichnen. Garniert mit einer Vertröstungswortwolke, die die strategisch ausgerichtete Politik des Nichtstuns oder zögerlichen Abwartens kaschieren und dekorieren soll.
Das Fatale an dem Anti-Diskurs-Virus, den Angela Merkel personifiziert, ist die Ausstrahlung ihres Erfolgsmodells auf die politische Konkurrenz. Sie gilt mit ihrem puristischen Stil außerhalb der CDU als Lichtgestalt. Nicht nur Spitzenpolitiker bewundern die Methode Merkel. Mit der von ihr forcierten Debattenallergie verschont sie ihre Wähler von der Last der Mitwirkung am Gemeinwesen und steigert so ihre Popularität. Mit fatalen Folgen. Die Spirale der diskussionslosen Geschlossenheit in allen Parteien wird so nur weiter angetrieben. Die jetzt kursierenden innerparteilichen Drohbriefe an die Kanzlerin sind deshalb nicht als Beiträge für einen offenen Diskurs über die „Flüchtlingskrise“ zu verstehen, sondern als Reaktion auf breite Ressentiments zur faktischen Einwanderungspolitik. Im Grundsatz gilt offenbar selbst in Krisenzeiten das eiserne Gesetz der politischen Klasse: Einfach mal die Klappe halten.
Jürgen Habermas lebendiges Vermächtnis, „der zwanglose Zwang des besseren Arguments“, hat schon lange keine Konjunktur mehr. Vordergründig sehen alle Akteure, die einen öffentlichen Diskurs zu wichtigen Fragen pflegen könnten, keinen Nutzen für den Streit um die besseren Argumente:
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Wer argumentiert, muss Prioritäten setzen, Wertefragen für und gegen eine inhaltliche Entscheidung klären und für seine Position streiten. Daraus erwächst Polarisierung. Das Gros der amtierenden politischen Klasse will aber beruhigenden Konsens und die „sorgenvolle Zufriedenheit“ der Bürger nicht stören, sich nicht angreifbar machen.
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Die Medien bevorzugen den rasch wechselnden Empörungsrausch in Echtzeit, der angezettelt und bald wieder von einer neuen Welle abgelöst werden soll. Schon Luhmann analysierte, dass die Medien an Neuigkeiten, nicht aber an Wichtigkeiten interessiert sind. „Interessant geht vor relevant“ – heißt es heute folgerichtig in den journalistischen Handreichungen.
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Die Bürger vermuten im Streit um Argumente zu oft folgenlose Kulissenschieberei und mangelnden Ernst. Das Credo: „Wer seine Meinung sagt, kann etwas ändern“ (Memo auf dem Schreibtisch des VW-Konzernbetriebsratsvorsitzenden) taugt nur noch für Poesiealben. Das Gefühl, dass sich die Richtung in einzelnen Politikfeldern grundsätzlich ändern könnte, ist verkümmert. Besonders in Zeiten Großer Koalitionen dämpft dies die Bereitschaft, sich einzumischen.
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Die Eindruckserweckung gilt unter Politikern als die hohe Kunst der Profession, nicht die Überzeugungskraft von geklärten Argumenten und begründeten Haltungen.
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Bestimmte Positionen werden systematisch als „Test-Ballon“ in speziell passenden Medien „platziert“, um zunächst die Reaktion der Medien zu testen und dann die Positionen zu forcieren oder wieder einzufangen.
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Kontrollierte Kommunikation ist zum Prinzip geworden. Abgestimmte „wordings“ werden an die zitierfähige Parteispitze per SMS versendet und als verpflichtend eingestuft. Wenn es heikel wird, greift eine andere, sich ausbreitende Methode: einfach schweigen und nichts sagen.
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Besonders in Konfliktsituationen werden wachsweiche Formulierungen gewählt, die jederzeit „dementifähig“ sind. Gezielte Unklarheit ist kein Nebenprodukt von Unfähigkeit, sondern gezielte Kommunikations-Strategie.
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Auch für gewiefte Politiker ist die Resonanz ihrer Äußerungen schwer kalkulierbar. Eine „Nicht-Aussage“ kann „explodieren“, ein wirklich neuer Gedanke kann in der Flut der Meldungen einfach untergehen. Wenn man den Output an „exklusiven“ Wochenend-Meldungen studiert, wird man kaum ein belastbares Relevanz-Muster entziffern können. Die Wirkung der semantisch harmlosen Aussage: „Nichts ist gut in Afghanistan“ mag diese neue Unübersichtlichkeit anschaulich illustrieren. Offenbar hatte die frühere EKD-Ratspräsidentin Käßmann damit ein Tabu angesprochen.
Frank Schirrmacher, der nach seinem plötzlichen Tod als argumentierende Lichtgestalt und Kontrast zum Defizit diskursiver Politik gefeiert wurde, hat mit seinen Impulsen und Anstößen eine Blaupause für mehr Argumente im öffentlichen Raum hinterlassen. Schirrmacher wollte den Streit und den Bruch mit Denkmustern. Konfliktbereitschaft und (gelegentlich hemmungslose) Zuspitzung waren für ihn Katalysator für die herausfordernde Beachtung von verborgenen Themen und die Argumentations-Animation für relevante Streitthemen. Natürlich beherrschte er mit seiner Themensetzung auch die Gesetze moderner Kampagnen-Führung und die Vorzüge des genre-übergreifenden Medien-Mix, die er perfekt nutzte.
Er war ein risikobereiter Musterbrecher. In diesem Sinne könnte er als Ausnahmefigur auch ein Leitbild für Akteure der sogenannten Zivilgesellschaft sein, die – jenseits ihres Grundrauschens – mehr wollen, als den Zeitpunkt abzuwarten, wann ihre Zeit gekommen ist. Selbst VW-Manager bekennen im laufenden Abgas-Skandal, dass sie sich nicht mehr mit „Ja-Sagern“ in ihrer (bislang) geschlossenen Welt umgeben wollen.
„Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg“ – besonders im politischen Betrieb gilt dieser Leitsatz. Wer hat demoskopisch ablesbaren Erfolg, wer steht auf den Spitzenplätzen der Sympathie-Fieberkurve? In der politischen Szene Deutschlands ist keine Spitzenfigur erkennbar, die stetig auf Diskurspolitik setzt, dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments vertraut. Ein gegenläufiger Trend ist erkennbar. Ein Spitzenpolitiker, der im Kampf um mediale Aufmerksamkeit bestehen will, muss – jenseits von Positionen, Programmen und Argumenten – ein besonderes Narrativ in sich tragen, das die Auseinandersetzung um Sachfragen überlagert.
Jochen Buchsteiner (FAZ 8.8.2014) hat diese Entwicklung am Beispiel des konservativen Londoner Bürgermeisters Boris Johnson nachgezeichnet. Johnson hat zwar noch keinen Wahlkreis, aber er gilt bereits als der Herausforderer des britischen Regierungschefs Cameron. Ihm wird zugetraut, Partei und Politik „popularisieren zu können.“ Sein Fazit: „Fast scheint es, als transformiere sich Politik über ihn zu etwas Un- oder Überparteilichen.“ Ein Bezug zur Kanzlerin drängt sich hier auf. Auch weitere Charakteristika illustrieren den künftigen Erfolgs-Typus auf der politischen Bühne. „Sein Witz, seine Schlagfertigkeit, sein beinahe komödiantisches Talent haben ihn zu einem Superstar der Politik gemacht, dem auch nicht-konservative Wähler erliegen.“ Und: „Johnson inszeniert sich als spontan, manchmal fahrig, fast chaotisch, aber meistens steckt Kalkül dahinter.“
Markierungen, die auch bei anderen Erfolgskarrieren zu besichtigen sind. Argumentierender Diskurs, sortierte und begründete Positionen: Für diesen Stil scheint in postdemokratischen Gesellschaften, die unter der fatalen Verbindung von Komplexitätsdruck, finanzieller Auszehrung und starken Wirtschafts-Interessen leiden, wenig Platz zu sein. Der Typ „Johnson“ macht auch in Deutschland jenseits von Herrn zu Gutenberg Karriere.
Eine ähnliche Bedeutung eines politischen Narrativs kann man in Hessen am Beispiel einer Landesregierung beobachten. Das Klein-Klein der schleppenden Landespolitik verschwindet hinter dem großen Zukunfts-Bild einer Schwarz-Grünen Koalition auf Bundesebene. Der hessische Finanzminister Thomas Schäfer (CDU) versteigt sich folgerichtig schon in das geeignete Superlativ: „Schwarz-Grün ist ein Gesamtkunstwerk.“ (FAZ 8.8.2014) Die Rezeptur für dieses Narrativ liefert der Politiker gleich mit: „Außerdem trifft man sich jeden Montagabend –und bleibt notfalls auch bis in die Puppen, um Konflikte beizulegen oder im Keim zu ersticken.“
Das Projekt „Schwarz-Grün“, übrigens die Lieblings-Konstellation der meisten Meinungsführer, erreicht eine besondere Strahlkraft. Wenn bei der Konstruktion dieses Narrativs aber Konflikte systematisch vorab begradigt werden, bleibt kein Raum mehr für den Austausch von Argumenten in der Öffentlichkeit oder im Parlament. Ähnlich verhält es sich auch in „kleinen Koalitionen.“ Kadavergehorsam, Konsenszwang, Konflikt-Ausblendung ersetzen die langen Linien von Programm-Ideen oder weichen einst unverwechselbaren Positionen bis zur Unkenntlichkeit auf.
Auch in Rheinland-Pfalz überstrahlt ein Narrativ das regionale Geschehen. Die Person der Ministerpräsidentin, die trotz schwerer Krankheit Politik leidenschaftlich betreibt, scheint wichtiger zu sein, als die klassische Landespolitik. In Talk-Shows wird sie immer wieder explizit auf Grund ihres „Schicksals“, nicht wegen den landespolitischen Kernthemen oder besonderer politischer Fragestellungen eingeladen. Ihr Bekanntheitsgrad und die nationale Berichterstattung über sie stützen sich dominant auf dieses Narrativ. Ihre Konkurrentin von der CDU konnte ihr Profil vor allem durch eine stringente weight-watcher-Kur und ihren modischen Auftritt aufpolieren. Hinter solchen Narrativen verschwinden Kommunal-Reform und Länderfinanzausgleich.
Die drei Beispiele lassen sich zu einem künftigen Trend bündeln: Spitzenpolitiker streben ein bestimmten Narrativ an, mit dem sie öffentlich verbunden werden. Dieses oft kontextfreie Sinnbild überlagert dann alle Fragen nach argumentativ unterlegter Sachpolitik. Andernfalls erfüllen sie nicht die Ansprüche einer medialen Aufmerksamkeits-Ökonomie, die einfache Bilder verlangt und die Lust an Differenzierungen, Nuancen und Kontexten verloren hat. Dieses Erfolgsmodell färbt auf den Politikbetrieb ab: Im Ergebnis rücken rationale Argumente, überlegte Sachauseinandersetzungen und damit eine lebendige Debattenkultur in den Hintergrund. Dieser Trend wird von den Medien vorangetrieben, mitunter auch erzeugt. Die Sichtbarkeit von Personen und deren (persönliche) stories passen besser in die Agenda der Medien als schlüssige Argumente und ausgereifte Konzepte und konsistente Politikentwürfe.
Im Kern geht es in der Aufmerksamkeits-Ökonomie um einen (lautlosen) Machtkampf, wer die Interpretationshoheit um politische Vorgänge hat? Die Medien – oder die Politik? Die mediale Genese beim Sturz des früheren Bundespräsidenten Christian Wulff ist – jenseits der Gewichtung einzelner Ungeschicklichkeiten, Fehler und vermeintlicher Charakterschwächen – solch ein Machtkampf um die Interpretationshoheit zwischen Medien und Politik.
Der frühere Chef des heute-journals (ZDF), Wolf von Lojewski, hat bereits Ende 2012 in seiner Eröffnungsrede beim MainzerMedienDisput im ZDF auf diese Dominanzfrage hingewiesen. Nach seiner Einschätzung geht es nicht nur in der sogenannten Skandalberichterstattung um die Machtfrage. Lojewski sieht eine zunehmende Macht der Medien im Kontrast zur Politik. Bald könnten Politiker froh sein, wenn sie zu wichtigen Themen noch befragt würden. (vgl. www.newsroom, 16.10.2012)
Eine ähnliche, aber noch tiefer gehende Diagnose, präsentierte der (frühere) grüne Spitzenpolitiker Jürgen Trittin. In seiner Erfahrungsbilanz setzen die Medien „Themen, Trends und Stimmungen.“ Sie spielen einen aktiven Part in der Gestaltung oder Verhinderung von Diskursen. Jürgen Trittin verglich den Berliner Politikbetrieb mit den Machenschaften, die in der oft gerühmten US-Serie „House of Cards“ zu besichtigen waren. Die Verzahnung zwischen Medien und Abgeordneten und die Abhängigkeit von Entscheidungsträgern von den Mächtigen aus Industrie und Wirtschaft sind die wesentlichen Narrative von „House of Cards“. Die Serie, so Trittin, „zertrümmert rücksichtslos das Gerede von den Medien als Kontrolleure der Macht. Medien sind selber Teil der Macht. Sie berichten nicht einfach, sie setzen Themen.“ (…) „Der übliche Deal („Ich versorge Dich mit Material und Du zitierst mich“.) müsse nicht zu zeitweiligen Verhältnissen (wie bei den Protagonisten der Serie) führen. „Aber es läuft genau so.“ – bilanzierte der grüne Spitzenkandidat 2013. „Medien sind Teil der politischen Maschinerie, auch wenn sie das scheinheilig verleugnen, stattdessen pauschalierend über „die Politik“ reden und damit das Vorhandensein realer politischer Alternativen vernebeln. Sie setzen Themen, Trends und Stimmungen“, resümierte Trittin in der Wochenzeitung „Freitag“. (9.1.2014)
Auffällig ist, dass Trittins vernichtende Analyse in der Öffentlichkeit kaum aufgegriffen wurde; kein anderer aktiver Politiker hat bislang eine vergleichbare Praxis-Kritik in dieser Klarheit öffentlich geliefert. Möglicherweise herrscht die immer wieder – hinter vorgehaltener Hand – präsentierte Meinung vor, man solle sich nicht mit den Medien anlegen. Zudem seien die eingeübten Mechanismen des agenda settings und agenda cuttings, der Unterhaltungssucht und der Personalisierung nicht mehr umkehrbar. Ein Arrangement mit der medialen Empörung sei günstiger als eine nüchterne Kritik.
Folgende „gelernte“ Medientrends liefern den Rahmen einer Medienanalyse, die für Argumente und Diskurse wenig Raum lässt:
Der „Aufreger“ ist zum zentralen Genre der Nachrichtenproduktion avanciert. Die Stimulierung einer „Echtzeit-Empörung“ wird zur Königs-Disziplin im medialen Betrieb. Begleitet wird dieser Trend durch einen informellen, (aber unaufhaltsamen) Wandel der Nachrichtenfaktoren. Gesprächswert steht ganz oben. Echte Relevanz wird „unrelevant“. „Akzeptanz ist Relevanz“, diese Formel hat bereits den Status eines offizielle Slogans erreicht; die jeweils erzielte „Reichweite, Quote, Auflage oder Klickrate wird zur Legitimations-Instanz und zum Druckfaktor von journalistischen Entscheidungen. Der innere Kompass im Journalismus ist verlorengegangen. „Die Umkehr der Wichtigkeiten“ (Richard von Weizsäcker) ist Programm und stützt sich auf interne Publikums-Akzeptanz-Ergebnisse der Medienforschung. Ganz gleich wie windig die jeweilige Erhebungseinheit ist.
Die Folge ist ein verändertes Berufsbild: Im Kern müsste in der Berufsberatungsblättern der Beruf des Journalisten mit „Emotions-Ingenieur“ angegeben werden. Oder als „Gesprächs-Animateur“ beziehungsweise „Gefühls-Simulant.“ Neben dem erwähnten „Gesprächswert“ eines „Aufregers“ ist vor allem „schöne Information“ gefragt. (Service, Kochen, Tiere, Reisen, Adel, Landschaften, Quiz, Mundart-Theater uvm.) „Sperrige Politik-Themen“ rücken an den Rand und werden allenfalls als „Hartholz“ mitgenommen. `Postkarten-Journalismus` wird zum Kerngeschäft. Eine focus-Kolumnistin nennt dies die Abkehr von den „Politik-Politik-Themen.“
Journalisten sind vor allem Produzenten von vorgefertigten Stoffen, die höchstens noch konfektioniert, veredelt, evtl. erweitert werden. „Branded Journalism“ oder extern zugeliefertes „Content-Marketing“ gewinnt immer mehr an Bedeutung. Das Berichten aus eigener Anschauung, vor Ort, mit der Nutzung vielfältiger, unabhängiger Quellen und der Einordnung auf der Basis von (spezieller) Fachkenntnis und Erfahrungswissen ist „old school“. Argumentierender Journalismus, der im Ergebnis nicht vorhersehbar ist, der Nuancen wahrnimmt und Differenzierungen einbezieht, erklärt und hinterfragt, gilt als „überholt.“ Ausnahmen in Nischen eingeschlossen.
Gnadenlos zugespitzte Überschriften-Texte sind wichtiger als eine ausgeruhte Analyse. Suchmaschinen-Optimierung hat eine wesentlich größere Bedeutung als Quellenzugänge und die Kernfunktion des Kuratierens von Informationen. Erfahrungswissen und Fachkompetenz oder Handschriften von Autoren haben offenbar keinen Mehrwert; sie gelten im tempogetriebenen news-Betrieb eher als lästig und umständlich. Sinnfällige Beispiele für diesen Trend sind die Ranking- und Check-Formate, die Objektivität simulieren, ohne ihre Begründungsmuster – jenseits von überschaubaren votings der Nutzer – offen zu legen. Leichte Service-Kost wird in einer Flut von Sendungen rund um Essen und Nahrung serviert, ohne das „Billig-Kaufverhalten“, die industrielle Produktion von Nahrungsmitteln oder die Konzentrations-Wirkungen der Lebensmittel-Discounter unter die Lupe zu nehmen. Phänomene werden thematisiert, ihre strukturellen Hintergründe weitgehend ausgeblendet.
Die Voraussetzung für dieses (fast) durchgängige Produktions-Modell ist die Selbstbegrenzung auf eine gnadenlose Komplexitätsreduzierung aller Stoffe und damit der Verzicht auf Differenzierung („RTL2 Prinzip“). Der einfache Erzählsatz zählt allein beim Themen-Verkauf. („Alles muss man sofort in einem Satz –„dem Küchenzuruf“ – präsentieren können.) „Informations-Reduzierung erhöht den Erzählfluss“ – lautet das erste Gebot. Die serielle Banalisierung aller Stoffe, garniert mit interessanten, visuellen Unterhaltungs-Elementen, gilt als Garant für Quoten, Auflagen, Klicks. Jeder Grauwert, jede Differenzierung abseits der Hauptlinie der jeweiligen story irritiert die Programm-Ansager, wie selbst ein Redakteur des Deutschlandfunks kürzlich beklagte.
Es geht immer mehr um Verpackung. Die Konfektionierung (Hülle) ist wichtiger als der Inhalt. („10 Top-Erfolgsfaktoren für Politiker“) In Boulevard-Lehrbüchern heißt es: „Komplexitätsreduzierung ist Quotensteigerung.“ Journalismus soll „Aha-Erlebnisse“, „Gänsehaut-Momente“ verschaffen. „Aufklärung ist retro.“ Nikolaus Brender, früherer ZDF-Chefredakteur, hat diese elementare Empörung in Echtzeit in einer Rede treffend beschrieben: „Eines ist klar: Wir selbst saugen die Flut an, die Welle von irrelevanten Kleinigkeiten und die Riesenwellen des bloßen Scheins. Und dabei sind wir unersättlich. (...) Echtzeitjournalismus reicht schon lange nicht mehr. Die Endzeit muss es schon sein, über die wir Journalismus berichten.“ (Frankfurter Rundschau, 6.11.2012, „Den Turbo-Journalismus stoppen.“)
Die Folge: „Allein mit Qualitätsjournalismus kann heute niemand mehr überleben.“ (Hubert Burda, Horizont, 20.1.2014 von Katrin Lang) Diese Erkenntnis führt dazu, dass Journalisten die „Bergarbeiter des 21. Jahrhunderts“ sind (so ein Ex-ftd-Redakteur), die 20%-Sparregel Redaktionen unter Druck setzt, ausgebrannte und austherapierte Macher in newsrooms als „content“-Produzenten agieren.
Journalismus wird zunehmend zur „Kommentierung von Marketing“ (auf allen Ebenen). – Die Stofflieferanten werden jedoch tabuisiert. Dieser Trend bleibt nicht folgenlos: „Daran sollten sich Journalisten gewöhnen, dass der Begriff ‚unabhängiger Journalismus’ längst ein Mythos ist.“ Mit diesem Glockenschlag in der Schweizer „Medien Woche“ trieb die Kommunikationsberaterin Karin Müller eine schlummernde Debatte voran. Nach 18 Jahren im Journalismus heißt ihr Credo: „Wir alle müssen uns von einem Journalismus verabschieden, der aus zwei Werten bestand: Qualität und Unabhängigkeit.“ (www.medienwoche.ch, 19.6.2014)
Gleichzeitig verlangen Markt und Publikum zunehmend nach Angeboten zwischen Werbung und Content. Native advertising, Content Marketing, storytelling, Corporate Publishing wachsen rasant. Die Macher des „King Content Day“ bilanzieren in ihrer Konferenz-Einladung: Auf der digitalen Ebene verschmelzen die „Grenzen zwischen Content-Produzenten, Distributeuren und Usern. Zudem werden die Grenzen zwischen werblichen und Entertainment-Inhalten immer durchlässiger.“ Die Wertschöpfungsketten verteilen sich neu, auch weil frische Studien „einen dramatischen Bedeutungsverlust für die traditionelle Pressearbeit“ (Anm. klassische PR) ausgemacht haben. PR-Experten setzen nun auf mobile online-Kommunikation und die Vermittlung ihrer Botschaften direkt an einzelne Zielgruppen. (vgl. Rene Seidenglanz, PR und Journalismus, Quadriga-pdf o.D., mit interessanten Befunden aus der Sicht von PR-Akteuren)
Auf diese Weise wird Journalismus in den Zwängen von minütlicher Messbarkeit, von Echtzeit, wahnwitziger Komplexitätsreduzierung, Unterhaltungs-Sucht und ökonomischen Zwängen zu einer unberechenbaren Größe. Unreflektiert, unbekümmert, unkontrolliert.
In diesem Sinne sind die Medien Spiegelbild einer Politik, die nicht mehr auf Diskurse und Argumente vertraut; sie setzt auf Aufmerksamkeits-Management, Eindruckserweckung sowie die Entwertung oder Verdrängung von Themen und Argumenten. Sie verstärken die Trends nach Personalisierung, nach Vereinfachung, nach kontext-freien Betrachtungen, die einem „inneren Narrativ“ folgen. „Daumen hoch – oder Daumen runter.“ Gefällt mir oder Gefällt mir nicht. Hauptsache, der Aufregungspegel stimmt und die Empörungswut findet ein Ventil.
Vor dieser Kulisse eines permanenten Stichflammen-Journalismus arbeiten sogar NGO`s. Zum Teil nutzen sie auch die Schwächen des medialen Systems, in dem sie auch den Instrumentenkasten der PR nutzen, um ihre Inhalte zu transportieren und ihre „Experten“ zu platzieren. Kurzfristig mag dies als Erfolg der Marketingabteilungen gewertet werden. Längerfristig führt dieses Kommunikationskonzept jedoch in eine Sackgasse. Gründliche Analysen, klare Wert-Haltungen, schlüssige Argumente aus vielfältigen Perspektiven sind die Rohstoffe, die den öffentlichen Diskurs beleben könnten. Politik und Medien können auf diese Art des Diskurses verzichten. Eine lebendige, funktionierende Demokratie als Lebensform jedoch nicht.
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