Kein innenpolitisches Konfliktthema ist stärker umstritten als die Definition, wer arm (und wer reich) ist? Und welche Folgen die Armut bzw. die Armutsgefährdung für Kinder, Alleinerziehende, Erwerbslose oder Langzeitarbeitslose in einem reichen Land hat.
Mit großem Gutachter-Aufgebot versucht die zuständige Arbeits-Ministerin Andrea Nahles (SPD), das Konfliktthema frühzeitig zu entschärfen. Ende des Jahres wird der 5. „Armuts- und Reichtumsbericht“ der Bundesregierung erwartet. Ein heikles Unterfangen, denn je mehr Details über die tatsächliche Armut in Deutschland einer breiten Öffentlichkeit bekannt werden, um so schwieriger wird es, die aufkeimende Empörung einzuhegen. Frühere Armutsberichte – auch in den Ländern – hatten aufgrund umstrittener Zahlen und gezielten Auslassungen Schlagzeilen gemacht. 2016 soll dies verhindert werden. Ob dies gelingt ist allerdings fraglich.
Denn sogar das Statistische Bundesamt schlägt Alarm und warnt vor der zunehmenden Armut nicht nur von Geringqualifizierten. (Tagesspiegel 28.8.2015) Die Behörde, die in Deutschland die amtliche Statistik bereitstellt, geht von etwa 15% Armutsgefährdung in Deutschland aus. Diese Zahl ist Politikern jeder Couleur ein Dorn im Auge. Sie betonen stets, dass damit ja „nur“ die Armutsgefährdung statistisch erfasst werde. Hinter den Kulissen wird deshalb immer wieder versucht, den Armutsbegriff neu zu fassen. Der Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverband (DPWV) sieht sogar Bestrebungen bei der zuständigen Arbeitsministerin Andrea Nahles, „den Armutsbegriff klein zu raspeln.“
Die Chancen vieler Akteure in Wirtschaftsverbänden, Wissenschaft und Politik mit diesem Vorhaben erfolgreich zu sein, wird aber von erfahrenen Politikberatern wie Gerd G. Wagner (DIW-Vorstand) als gering eingeschätzt. Zu groß wäre der Aufschrei in der Öffentlichkeit, die solche „Korrekturen“ über die Umwidmung von Definitionen sehr sensibel beobachtet.
Gespaltene Datenlage und der Kampf um die Interpretation
Seit gut einem Jahr hat das Thema Armut und Reichtum eine anwachsende Konjunktur. Sogar nationale Zeitungen nehmen die Ergebnisse etwa der „Oxfam-Studie“, die eine krasse Kluft zwischen den wenigen Reichen und den vielen Armen hervorhob, auf ihre Titelseite. Drei wesentliche Gründe für die auffällige publizistische Achtsamkeit von der aktuellen Titelgeschichte bis zum Pressclub-Thema gibt es: von Armut fühlen sich mittlerweile zunehmend auch Angehörige der (unteren) Mittelschicht bedroht. Armut ist nicht mehr nur das Thema der sogenannten Unterschicht. Im Zuge des drohenden Fachkräftemangels hat sich der sehr breite Konsens unter Politikern und Wirtschaftsvertretern gefestigt, dass sich eine führende Industrienation Kinderarmut – und damit die Vergeudung von Talenten durch die Bildungs-Blockaden – schlicht nicht mehr leisten kann. Schließlich verschärfen sich mit dem Zuzug von Hunderttausenden Flüchtlingen auch Verteilungskonflikte in Deutschland. Auf längere Sicht erscheint es unwahrscheinlich, dass sozialpolitische Leistungen für die 'unteren 20 Prozent' angehoben werden.
Einige Schlagzeilen der vergangenen Monate illustrieren diesen Trend:
„Die Armut ist erneut angestiegen auf mittlerweile 15,5%“ (Armutsbericht des DPWV vom 29.4.15)
„Allein mit Kindern macht arm. Mehr als ein Drittel (35,2%) der Alleinerziehenden gilt als arm.“ (Böckler Stiftung, 28.5.15) Die unternehmensnahe Bertelsmann Stiftung bilanziert: „Jedes 5. Kind ist armutsgefährdet“
Eine Welle der Altersarmut kommt auf uns zu. 13,4% der 65-74-jährigen hat ein erhöhtes Armutsrisiko. (BZ 22.5.15)
Dieser Trend nimmt zu; auch die Bertelsmann – Stiftung sieht eine „bedenkliche Entwicklung“, weil Gehaltsunterschiede zunehmen (epd, 3.7.2015) und es „große Versorgungslücken“ bei den Alten gibt. (FR 31.7.2015)
Der Freiburger „Rentenexperte“ Prof. Dr. Raffelhüschen geht noch weiter und sagt: „Fatale Asylpolitik bringt Altersarmut.“ (FAZ, 5.10.2015)
Er bezieht sich auf die Ankündigung der Arbeitsministerin und der Bundesagentur für Arbeit, „nur 10 % der Asylbewerber würden direkt in den Arbeitsmarkt integriert werden können.“ Der Forscher hinterfragt die Folgen der verbleibenden 90% für den Arbeitsmarkt und die Stabiltät des Sozialstaates. Eine Diskussion, die in ihrer gesamten Tragweite sicher noch an Fahrt aufnehmen wird, wenn mehr Asylanträge beschieden und mehr Asylbewerber von den Erstaufnahmelagern in die Kommunen ziehen.
Auffällig ist, dass die zunehmende mediale Aufmerksamkeit rund um die verschärften Verteilungskämpfe von Spitzenpolitikern mit lautem Schweigen beantwortet wird. Mediale und politische Resonanz fallen auseinander. Ein Grund: wer an dieses Thema rangeht, macht eine politische Großbaustelle auf. Das will sich offenbar derzeit niemand in den etablierten Parteien zumuten.
Die Armuts-Kontroverse – umkämpfte Definitionsmacht
Als armutsgefährdet gelten diejenigen Personen, die weniger als 60 % des durchschnittlichen Nettoeinkommens in Deutschland in einer vergleichbaren Familiensituation verdienen. Bei einer Einzelperson sind das derzeit 917 Euro. Statistisch führt dieses Rechenmodell dazu, dass Lohnerhöhungen für die breite Mittelschicht „statistisch“ mehr Armut produzieren. Die Folge: Armut trifft künftig vermehrt diejenigen, die vom Wohlstand abgekoppelt sind.
Ein Alarmsignal für Politik und Wirtschaft, die den Definitionsrahmen für Armut (die Orientierung am Median, also dem Durchschnittseinkommen) ändern wollen. Armut und Reichtum sollen neu definiert werden, um den „Schandfleck“ der Armut „auszuradieren.“ Die maßgeblichen Fachpolitiker seien ohnehin von den Armutszahlen „abgestumpft“ und reagieren nur noch gelangweilt auf die „Empörungswellen.“ Die Debatten um Reichtum und Armut werden folglich immer heftiger ausgetragen. Selbst die Wohlfahrtsverbände sind sich nicht einig. Die Caritas-Spitze etwa geht davon aus, dass vor allem pragmatische Verbesserungen – etwa für Langzeitarbeitslose bei der Integration in den Arbeitsmarkt – die Armutsbekämpfung voranbringen.
Aber auch die Caritas-Führung muss sich mit dem Argument beschäftigen, dass sich Langzeitarbeitslosigkeit seit Jahren verfestigt und es bis heute Politik der Bundesagentur ist, schnelle Vermittlungserfolge von 'leicht'zu vermittelnden Arbeitslosen zu erreichen.
Die Argumente der Kritiker gegen die „Armutsthese“
Die Kernargumente der Kritiker heben darauf ab, dass zusätzliche Einkommen, Vermögen (Immobilien etc.) sowie Hilfeleistungen aus dem familiären und persönlichen Umfeld nicht in die Statistiken eingehen. Der Mikrozensus bilde dies nicht ab. (vgl. iwd 21.4.15)
Zudem führen die Kritiker der „Armutsthese“ regionale Unterschiede der Betroffenen an (München ist teurer als Brandenburg), hinterfragen die statistischen Messmethoden grundsätzlich (Singles vs. Familien etc.) und wollen stärker zwischen absoluter und relativer Armut differenzieren.
(vgl. Prof. Dr. Wagner, FAZ 5.10.15 „Die Tücken der Armutsstatistik“, Das Vorstandsmitglied des DIW berät u.a. die Arbeitsministerin in den umstrittenen Fragen und gilt als einer der einflussreichsten Politikberater im Feld der Sozialpolitik.
Der Streit der Wohlfahrtsverbände – Caritas vs. DPWV und der anderen Wohlfahrtsverbände
Caritas Chef Georg Cremer wirft dem DPWV vor, dass er „real bestehende Armutsprobleme in einer Weise skandalisiert, die nicht dem gerecht wird, was der Sozialstaat leistet.“ BZ, 29.4.15)
Auf diese Verschiebung der Argumentations-Ebene gehen jedoch die anderen Wohlfahrtsverbände nicht ein. Der Streit schwelt weiter, es geht um eine grundsätzliche Frage, was der Sozialstaat leisten soll und wie die Gesellschaft mit verschämter Armut umgeht?
Die alarmierenden Meldungen der „Nationalen Armutskonferenz“ finden ein immer größeres mediales Echo, auch weil die Wohlfahrtsverbände damit Druck machen können, mehr öffentliche Ressourcen für ihre Arbeit zu beschaffen.
Gewinner und Verlierer: das Wachstum der „Armutsindustrie“
Prof. Dr. Selke (Furtwangen) sieht im Schatten dieser Entwicklung eine blühende Armuts-Industrie, die von der Armut der Menschen profitiert. Diese Aussage bringt zusätzlich Spannung ins Thema. Auch die Tafeln sind demnach ein Mosaikstein in der „Armutsindustrie.“
Die vielen Ehrenamtlichen in den Tafeln, die im großen Stil Nahrungsmittel sammeln und verteilen, wehren sich gegen diesen Vorwurf. Denn so lange Menschen aufgrund ihres geringen Einkommens hungern müssten, sei ihre Arbeit überlebenswichtig. Aber auch bei den ehrenamtlich geführten 900 Tafeln in Deutschland verschärfen sich die Konflikte. Weil immer mehr Flüchtlinge die Tafeln aufsuchen, ist die Rede von einer „Lebensmittel-Obergrenze.“ Künftige Verteilungskämpfe der „Armen gegen die Ärmsten“ kündigen sich hier an.
Reiche in Deutschland – eine Fata Mogana
Während Armut in Deutschland bis in die kleinsten Facetten hinein erforscht und untersucht ist, gilt für die Gruppe der Reichen genau das Gegenteil. Viele aus dieser Zielgruppe verweigern – auch aus Sorge vor Neid-Attacken – die vollständige Auskunft, die Stichproben der untersuchten Reichen ist zu klein und das Steuergeheimnis in Deutschland heilig. Zudem unterliegt ihr Vermögen in Aktien, Immobilien oder anderen Anlagen Wertschwankungen. Ferner sind manche Umfragen zum Stand des Reichtums nach oben gedeckelt, wie Prof. Dr. Wolfgang Lauterbach von der Universität Potsdam analysiert. Gegen all diese Einwände argumentieren die Kritiker, dass einfach der politische Wille fehle, Reichtum in Deutschland genau unter die Lupe zu nehmen. Im unterbelichteten Feld des Reichtums gilt offenbar das gleiche Prinzip wie bei der Verhinderung der Transaktionssteuer. Führende FDP-Politiker, die die entsprechenden Richtlinien verhandelten, sind besonders stolz auf ihre damalige Verhandlungsstrategie. „Wir haben die Regelungen so kompliziert definiert, dass sie am Ende nicht greifen können.“ Ähnlich verhält es sich mit der Abschottung der Reichtums-Daten. Wenn man diese nicht genau ermittelt, kann man Vermögen und deren mögliche Besteuerung nicht sauber abgrenzen und taxieren. Auch hier gilt die alte Regel: „Macht ist die Schaffung von Ungewissheitszonen.“
Fest steht jedenfalls: die Verteilungskonflikte werden in den kommenden Jahren noch schärfer, die Belastungen des Staates größer und damit die Diskussion über „Arm und Reich“ in Deutschland intensiver. Rot-Grün hatte das Thema der moderaten Umverteilung vor der Bundestagswahl 2013 noch im Programm. Die Niederlage bei den Wahlen wurde intern u.a. damit begründet, dass auch deren wohlhabendes Wahlklientel sich durch die geplanten Steuererhöhungen verprellt sah. Ob die Parteispitzen sich jedoch mit dieser Linie durchsetzen werden, ist unwahrscheinlich. Die Verfestigung der Armut im „15-Prozent-Keller“ und die noch wachsenden Aufgaben bei der langfristigen Integration der Flüchtlinge lässt sich kaum „wegdefinieren.“
Info
Leif trifft ...: Sendung am 16.3.2016 um 20.15 Uhr "Das arme Deutschland - kein Wohlstand für Alle" von Thomas Leif und Harold Woetzel
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