Unter den zahlreichen Cartoons, die inzwischen den Schrecken der täglich jüngsten Statistiken und Sterbeziffern mildern sollen, habe ich auch folgende Zeichnung gefunden: Sie zeigt Menschen auf der Straße mit den obligaten Schutzmasken; nur ein Junge fragt seine Mutter: „Ist schon wieder Fastnacht?“ Und im Focus spricht Walter Mayer von einem „Vermummungsgebot“, dessen Geltung das ältere Vermummungsverbot, das aus den 1980er Jahren stammt, aufzuheben scheint; dabei leben wir doch seit Jahrzehnten in einer Gesellschaft der Gesichter, der facialen Repräsentationen, nicht nur in der Werbung, sondern auch auf medialen Plattformen wie Facebook oder Instagram. Während noch vor wenigen Monaten über Verbote der Verschleierung – in Schulen, Behörden oder Fußballstadien – diskutiert wurde, müssen wir jetzt sogar Schals um die untere Gesichtshälfte schlingen, falls wir gerade keine Schutzmasken haben oder anfertigen können.
In Zeiten der verkehrten Welt
Wenigstens in drei verschiedenen Kontexten war es auch in früheren Zeiten möglich, das Gesicht nicht zu zeigen, sondern zu verbergen: in Spiel und Fest, Kampf und Krieg sowie vor Gericht. Beginnen wir mit dem Spiel. Bereits die Kinder lieben es, sich zu verkleiden. In Verkleidung und Maskierung wird eine Distanz zur gewöhnlichen Welt hergestellt. Die Kinder sind plötzlich erwachsen, treten als Könige und Prinzessinnen, Priester und Heldinnen, Kaufleute, Piraten oder Zombies in Erscheinung. „Im Leben des Kindes ist ein solches Zurschaustellen schon sehr erfüllt von Verbildlichung. Man bildet etwas anderes nach, man stellt etwas Schöneres, Erhabeneres oder Gefährlicheres vor, als man gewöhnlich ist“, bemerkt der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga in seiner Studie zum Homo ludens. „Das Kind gerät dabei dermaßen außer sich, dass es fast schon meint, es ,sei es‘, ohne damit das Bewusstsein der ,gewöhnlichen Wirklichkeit‘ ganz zu verlieren.“
Die Lust am Verkleiden beschränkt sich freilich nicht auf das Kinderspiel. Während des Karnevals verkleiden sich auch erwachsene Menschen; sie vermummen sich, um „Mummenschanz“ zu treiben. Nach Auskunft der Brüder Grimm bezog sich dieses Wort ursprünglich auf den gelungenen Wurf im „Mummen“, einem Glücksspiel mit Würfeln; der erfolgreiche Wurf hieß „Schanz“ oder „Schanze“ und hat im altfranzösischen Ausdruck „Chance“ bis heute überlebt. Solche Würfelspiele waren übrigens bereits in der römischen Kaiserzeit – und danach unter christlicher Herrschaft – verboten, doch in Zeiten der „verkehrten Welt“, der Saturnalien oder des Karnevals, ausdrücklich erlaubt. Fest und Spiel durften den Alltag auf den Kopf stellen, aber nur für eine bestimmte Zeitdauer. In dieser Frist durften die strengen Regeln missachtet und übertreten werden, die im Alltagsleben respektiert werden mussten. Spiele und Feste boten eine befristete Gelegenheit für Rausch, erotische Abenteuer oder Glücksspiele; sie ermutigten zum Auftritt in anderen Rollen, wobei die Masken und Vermummungen auch vor rascher Identifikation schützten.
In den Nachrichten über Silvester- und Karnevalsfeiern wird heute zumeist betont, wie hoch die Sicherheitsvorkehrungen waren: Sperrzäune, Einlasskontrollen, schwer bewaffnete Polizisten, die ihrerseits nahezu vermummt wirken, mit schusssicheren Westen, Maschinenpistolen und Helmen. Plötzlich erinnert das Fest an den Krieg, an ganz andere Praktiken der Verbergung des Gesichts: Ritter und Söldner mussten Gesicht und Augen vor Angriffen und Verletzungen schützen, ohne die eigene Sicht nachteilig einzuschränken. Antike oder mittelalterliche Helme konnten diese widersprüchliche Anforderung nur partiell erfüllen: Schutz ging auf Kosten von Sicht – oder umgekehrt. Helme gehörten zur Ausrüstung der Krieger für den Nahkampf.
Die Geschichte des Krieges kann jedoch auch als Steigerung des Distanzgewinns erzählt werden: von der Erfindung des Schießpulvers und der ersten Gewehre, den Kanonen der Artillerie und dem Bombardement durch Flugzeuge bis zum Drohnenkrieg der Gegenwart. Distanzgewinn setzt allerdings neue Strategien zur Steigerung der Sichtbarkeit des Feindes voraus. Zu den neuen Instrumenten einer Sichtverbesserung auf Distanz gehören inzwischen Fernrohre, Nachtsichtgeräte und Computer, die in Verbindung mit Satelliten und GPS-Ortungssystemen den Einsatz von Drohnen ermöglichen. Zugleich hat der „War on Terror“ die staatlichen Verbote aller Sichtbarkeitsreduktionen verschärft. Unser Gesicht muss sichtbar bleiben, als öffentliches Gesicht, stets verfügbar für Identifikation und Überwachung. Staatliche Visiere erfassen heute nicht nur potenzielle Attentäter, sondern tendenziell die gesamte Bevölkerung.
Auch die Vermummung im Gerichtssaal ist natürlich verboten, es sei denn zum Schutz vor Medien, Fotografien und Filmen. Daher sehen wir inzwischen selbst bei kleineren Delikten, sobald von ihnen in Presse oder Fernsehen berichtet werden könnte, wie die Angeklagten mithilfe von Zeitungen oder Akten eine Aufnahme und Veröffentlichung ihrer Gesichter verhindern. Häufig werden danach ältere Fotos meist mit schwarzem Augenbalken abgedruckt. Diese Tradition der Porträt- oder Bildzensur durch schwarze Balken, die über die Augen gelegt werden, wurde wohl aus der Praxis der Textzensur übernommen, bei der politisch, moralisch oder rechtlich inkriminierbare Passagen in Druckschriften, Zeitungen oder Briefen wort-, zeilen- und absatzweise geschwärzt werden. Zumeist ging es dabei um den Schutz der Autoritäten – des Königs, des Staats, des Militärs, der Justiz, der Religion – vor Angriff, Beleidigung und Verrat; in zeitgenössischen Demokratien werden Schwärzungen vorrangig aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen verfügt: Ein Ansehen wird gewahrt, indem es buchstäblich verhindert wird.
Imagebildende Signale
Solche Schutzfunktionen teilt der schwarze Augenbalken – der erst seit einigen Jahren allmählich durch die Methode der Pixelization abgelöst wird – ausgerechnet mit der Sonnenbrille, die angeblich in China erfunden wurde. Mit Ruß geschwärzte Gläser waren dort schon vor 1430 bekannt. Sie sollten allerdings nicht die Augen vor blendendem Sonnenlicht schützen, sondern einen womöglich verräterischen Blick der Richter verbergen. Assoziationen mit der Augenbinde der Iustitia drängen sich auf; doch trat dieses Attribut erst ab 1520 neben Waage und Richtschwert und fungierte wohl zunächst als spöttischer Hinweis auf die Blindheit, nicht auf die Unparteilichkeit des Rechts. Im Rekurs auf die beliebte Identifikation der Herrschenden mit der Sonne könnte die Sonnenbrille der Richter – oder die Augenbinde der Iustitia – auch als Schutz vor Einfluss und Blick der Mächtigen interpretiert werden, während moderne Sonnenbrillen dem Schutz vor der zudringlichen Aufmerksamkeit des Publikums zu dienen scheinen.
Eben darum wirken solche Sonnenbrillen, die ihre Popularität und ihr modisches Gewicht erst im 20. Jahrhundert erhielten, auch als imagebildende Signale der eigenen Prominenz. Wer die Sichtbarkeit seines Gesichts durch eine Sonnenbrille einschränkt, will damit auch betonen, wie bekannt sein Gesicht ohnehin schon ist. Die Vermummung wirkt als Distinktion, als mehr oder weniger elegante Unterstreichung des eigenen Rangs. Nur in La Patente (1954), der Verfilmung einer Komödie Luigi Pirandellos (1917), schützt Toto den Richter mithilfe einer Sonnenbrille vor dem „Malocchio“, dem „bösen Blick“, den er amtlich beglaubigen lassen will, um seinen Unterhalt fortan durch die Erpressung von Schutzgeldern bestreiten zu können. Sonnenbrillen schützen vielleicht vor dem „bösen Blick“, doch gewiss nicht vor Viren. Daher erinnern unsere neuen Gesichtsmasken eher schon an die Pestmasken vergangener Epochen. Während vor einigen Jahrhunderten die Stadtbevölkerung ihre Häuser, Kleider und Körper mit starken Parfums und Schwefeltinkturen imprägnierte, um der Infektionsgefahr vorzubeugen, verbreitete sich die Praxis der Pestärzte, eine Vogelmaske aufzusetzen, deren Schnabel mit duftenden Essenzen gefüllt war. Geholfen hat es nichts; ob die aktuellen Maskenpflichten die herrschende Pandemie eindämmen werden, muss wohl auch erst abgewartet werden.
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