Am Goldenen Bus

Wie ich Dylan sah Von einem, der nicht beim Berlin-Konzert gewesen ist

Everytime the first time.
Greil Marcus,
On Bob Dylan

Über Dylan schreiben, wer sich das als Frage stellt, braucht nicht erst anzufangen. Die Folie ist nicht zu beschreiben, weil sie vollgeschrieben ist, die Interpretationsflächen sind derart aufgesplittert, dass jede neue Erkenntnis mit Glück vielleicht die gedankliche Tiefe von Haarproben hat. Dylan (Musik ± Biographie) ist eine Gleichung fixer Variablen ohne Lösung, die Figur ein Palimpsest im Fleisch, das sich singend von der Autorschaft befreit, die Mumie des Popmusik-Business, der die Bandagen um die ihr Instrument bedienenden Gelenke flattern.

Ist der, den wir hören, Dylan durch sich selbst oder durch die Herde seiner Interpreten geworden? Die mitsingenden Massen, Minderheiten, freilich elitär. Die kopierten Konserven konservierter Kopien, analog-digital. Die wann zuerst gehörte Melodie im Kopf, die eigene private Biographie, verflochten mit der des Sängers. Die Geschichten, die Geschichten von Geschichten, der fortlaufende Text, die Dylan-Ideologie, die sich als Perpetuum von selbst ernährt … die wohlfeilen Zitate, die allegorischen Heerscharen, das Meer der Assoziationen, die Bilder, beschrieben, überschrieben, Bilder von Bildern … Ein Berg, der sich nicht abtragen lässt, man muss sich durchfressen.

Die Dylanologie legt nach einem Blick aufs Etikett der Büchse der Pandora nahe, dass Hören als rein sinnliches Wahrnehmen der musikalischen Erscheinung ausgeschlossen ist. Nichts ist wie beim ersten Mal. Der Künstler, vom Erwartungsdruck der "lebenden Legende" eingeschreint, zu Füßen die Halde der Sekundärliteratur. Dagegen hilft nur wandern.

Der größte Teil der ersten Dylan-Fangeneration hat die Musik während der mehr oder weniger bewegten Jugend verbrannt. Per Elvis der Befreiungsschlag, via Dylan die Botschaft. Treibstoff in andere Sphären der Wahrnehmung, Popmusik als Placebo gegen den Weltschmerz. Vom Befreiungsschlag zum Vademekum, vom Kassiber zum Kompendium. Der Mythos ist von keiner Oberfläche ablesbar, Mythos ist Erfahrung, die man zum Beispiel im Epochenbruch macht. Popmythen sind synthetische Mythen. Eine Erfindung der Wirtschaft gegen die Gegenkultur. Eine Erfindung, die hinter sich greift, und die Traditionslinie des neo-amerikanischen Archetypen von Dylan bis Lederstrumpf aufrollt.

Was soll er tun, als weitermachen. Der Tod ist keine Lösung mehr, also arbeiten und nicht verzweifeln, sich befreien aus dem Abraum der Legenden, werden, was er war: Der Typ, der alles drauf hatte. Woody Guthrie zuerst und von dem alles, die Legionen der Sänger, die schwarzen und weißen, die aus den Baumwollfeldern und den Metropolen. Die Anthologie der American Folk Blues Music, das Transportband der Mythen, mehr Trampelpfad als Highway. Dylan hat sie alle durchgehört, -gespielt, und spielt sie immer noch, die mit Namen, die Namen- und die Zahlenlosen. Vielmehr: spielt sie wieder, zur Herkunft hat er lange gebraucht, der Kurs war in Spiralen angelegt, Serpentinen, nach Kriterien des Erfolgs.

Mit dem Ruhm kommt die Häme, mit dem Wechsel der Linie die Denunziation. Frühe und späte Gefährten am Weg - Ric Von Schmidt, Dave Van Ronk, Phil Ochs, Townes Van Zandt (um die von Geblüt zu nennen) - drehten um oder wandten sich ab oder sind tot. Vom British Folk hier nicht zu reden, den Dylan seit seiner ersten Kontinentalvisite 1962 gehört und mitgenommen hat. Das opportunistische Arschloch, der Konformist, der Monomane, den Zeitgenossen in ihm entdeckten, ist in der Kultfigur entwischt. Brecht spricht von der Qualität des Plagiats, "die Größe eines Autors zeigt sich auch in der Größe des Plagiats." Dylan hat es nachgemacht: Vom Blues zum puristischen Folk zum Protestsong zum surrealen Rap zum Nashville Country zum Rock zum Soul zum Rockabilly zum Swing und zurück - auf jeden Zug gesprungen, was gegriffen, ab und woanders wieder auf, als Tramp ist er bei sich geblieben: "Für mich ist die Tour natürlich wie das Atmen, ich kann einfach nicht anders. Die Bühne ist der einzige Platz, auf der man sein kann, wer man wirklich ist."

Die Selbstbezichtigung als Song- and Danceman ist frei von Attitüde, vielmehr attitude, ist Haltung, Geste auf dem langen Marsch in die Herkunft, ins Inkognito des Columbia Recording Artist, der das Erdbeben seiner Existenz als Volkseigentum unter den niedergehenden Schollen der Klischees nur überleben kann, in dem er tiefer sinkt, im Wortsinn zugrunde geht, den Dingen auf den Grund. Wem das zu hoch gegriffen ist, der höre.

Das erste Mal habe ich Dylan gehört, vielleicht mit zehn, in der Schule. Elvis war schon tot, John Lennon noch am Leben, ich war zwölf, knapp dreizehn, und hatte gerade im Zweiten Deutschen Westfernsehn die Rolling Stones entdeckt, Love you live in Paris. Die Stones ergänzten die Beatles, die Abba, Smokie und irgendwas abgelöst hatten, die Initiation des sein FDJ-Hemd erwartenden Jungen in die Welt der elektrischen, anderssprachigen Musik, die einen irre machen konnte, vor allem aber die Eltern, je nachdem, wie weit man es trieb. Die sozialistische Kulturpolitik hatte schon resigniert, Beat war nicht länger verboten und übers Radio, das seine Störsender stillgelegt hatte, von überallher zu haben. Blowin` in the Wind, Chimes of Freedom, Hard Rain hießen die ersten Titel Dylans, die ich hörte, in der Schule hörte, zum Auftakt des Englischunterrichts. Der Grund war ein Unglück, die Lehrerin war ausgefallen, ein jugendlicher Typ, der später Klassenlehrer werden sollte, übernahm, und mangels Lehrplan oder weil er den Schülern, die zwei Jahre schon am unangewandten Russisch litten, den Gebrauchswert der neu zu lernenden Sprache veranschaulichen wollte, legte er mit Dylan los. Die Textzeilen waren in Broschüren zur amerikanischen Singebewegung, Verlag Volk und Wissen, mitzulesen. Dylan wäre als Friedenssänger auch schon aufgetreten in der DDR-Hauptstadt, 1962, mit Joan Baez im Vorprogramm des American Folk- oder Blues- oder sonst eines Festival im Friedrichstadtpalast: aber da trat auch Clown Ferdinand auf, und ein Kessel Buntes schwappte von dort aus jeden Monat übers Fernsehen. Jedenfalls im Klassenraum klang die Stimme und klang die Gitarre, Mundharmonika, und das wars. Die Stimme, der Sound, wie ich lernte, mehr als der Klang. Man muss das nicht ergründen, ich kann das nicht ergründen: Inarticulate Speech of the Heart, wie Van Morrison, ein anderer Song- and-Dance-Man von Mythen und Gnaden, das nennt.

Rosenkranz, der Lehrer, ließ Dylan laufen, übersetzte einiges und hinterließ vor allem die Erkenntnis, dass die Sprache nicht nur fremd, beängstigend beinah, voll düster blühender Geschwüre war. Bitter, dachte ich, Russisch ein ABC für Jungpioniere dagegen. Den Typen, der da sang, hielt ich für einen toten, mindestens steinalten Neger, der ein paar Lieder aus der Sklavenzeit in Ketten hinterlassen hat. Das erste Bild, was ich dann sah, den Typen in der Wildlederjacke, die Bibel oder sonst ein dickes Buch im Arm, nach unten aus der Plattenhülle sehend wie ein Lord im Traum aus seinem Zigarettenqualm, schien mit dem Hörerlebnis nicht vereinbar. Zwei Eindrücke und dazwischen eine Differenz. Erst später ahnte, lange später begriff ich, dass die Differenz das Bild am Leben hält, die Menschheit braucht ein Geheimnis. Die lehrerliche Auslegung von Blowin` in the Wind hielt sich eng an Die Antwort mein Freund, ich persönlich hielt es mehr für Kleine weiße Friedenstaube, was die Übersetzung hergab, und konnte das nicht ganz glauben. In den Wind geblasen, pfeif drauf schien mir näherliegend, dieser Stimme nach. Hard Rain war schon besser zu glauben: Zimmer voll mit Männern, deren Hämmer blutig waren, mit Landschaften, in denen nichts mehr stand als eine Autobahn aus Diamanten, auf die Blutstropfen von kohlschwarzen Ästen prasselten. Dazu passte, dass der Typ nebenbei noch die Elektrogitarre erfunden haben sollte. Am schärfsten Chimes of Freedom: angeblich Freiheitsglocken, aber wie konnten die schmelzen zum Blitzlicht und der Himmel fiel ein und die Städte zerrannen zu Brei? Ich war sicher, die Stimme, die ich hörte, hatte das gesehen.

Die zweite Englischstunde, Rosenkranz` letzte, ließ dann den Deckel endgültig vom Topf. Er brachte uns bei, was in Angloamerikanisch alles möglich ist: Herr Tamburinmann zum Beispiel. Kinderlieder, nein, von Rauschgift war die Rede. Take me on a trip, und ein trip, das war ein Schuss, das waren die Bilder von toten Jugendlichen in der Bahnhofstoilette Frankfurt/Main, das war die harte Welt des Westens, Bobdylanhören keine bedenkenlose Sache. Englisch etwas, das zu lernen sich lohnte. Wo das gesprochen wurde, gab es Gruppen, Bands, die, sich ungestraft Die Türen oder Die Wer nennen konnten oder schlicht und konkret Dave, Dee, Dozy, Bicky, Mick Titch, so ungefähr, nicht hin und her zu übersetzen. Aber es bedeutete was. Es bedeutete, dass alles möglich war. Es hätte vielleicht niemanden erschüttert, wären die Musikbeispiele ausgeblieben.

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