Aus dem Leben des Zeichners

Robinson Anlässlich Manfred Bofingers

Um es vorab zu sagen: Es gilt sich zu erinnern. Es gilt, sich eines Künstlers zu erinnern, seiner Produktion, deren zeitweilige Allgegenwart ihren Urheber auf dialektische Weise in die Anonymität geführt hat. Die Rede ist von einem, der mit den einfachsten Mitteln seines Berufsstands Wirkung erzielte, die er guten Gewissens zum geistigen Volkseigentum zählen konnte. Dessen waren wir gewiss.

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Seit die kontinuierliche Verbreitung der Bilder Manfred Bofingers zum Gemeingut unter Ostdeutschen wurde, begann der Autor hinter seinem Werk, das in Vielfalt und Masse von keinem übertroffen wurde, zu verschwinden. Und wäre wohl ganz unkenntlich geworden, hätte er sich nicht selbst zum Gegenstand erwählt - oder wäre erwählt worden, dank der Popularität seiner, wie er sie mit Ringelnatz bezeichnete, popligen Bilder. So wurde, dank eines wesentlichen Unterhaltungswerts, Bofi geboren. Kein Künstlername, kein Pseudonym für den öffentlichen Auftritt, stattdessen Kosename einer Mehrheit der Bevölkerung, vor allem der minderjährigen Mehrheit, die von Bofi-Bildern ins Leben geleitet, kommentiert und unterrichtet worden war.

Hier ist vom ostdeutschen Leben die Rede, ein spezielles, wie nicht nur Soziologen wissen. Die Spaßgesellschaft blieb den Kindern vorbehalten, angemessen zugeteilt von der pädagogischen Anstalt Staat. Der, auf Zukunft gebaut, bestand auf Wiedergutmachung später.

So lässt sich möglicherweise verstehen, warum Bofi im Zentralverzeichnis Antiquarischer Bücher unter derzeit eintausendvierhundertvierzig Einträgen gehandelt wird als Kult, nämlich der einer in doppeltem Sinn nicht wiederholbaren Kindzeit. Was im Westen nach Wegwerfsalami klang, war im Osten Synonym eines Lebens, in dem alles irgendwie zu brauchen war, weil es nicht überviel gab. Das lebenswert war, weil überschaubar, dessen Lücken zu umgehen, dessen Hindernisse zu unterlaufen, dessen Repressalien mit Witz, auch mit Witz, zu überbrücken waren. Dessen Biographien auf Langmut geeicht waren. Dessen Bürger als Staatsbürger lernten, dass der Zweck des Staates, den sie zu verkörpern angehalten waren, die Auflösung war; wie im übrigen die Aufhebung allen Eigentums auch, ausgenommen eines bestimmten geistigen. Bis dahin blieb der Entwurf des kommunistischen Gemeinwesens in allen Farben vorbehalten.

Der irreal sozialistische Alltag, der mehr binnenpolitische Komik abwarf als der irreal demokratische des Westens, hat in Leuten wie Bofinger seine besten Kritiker gefunden. In dessen Spaßbildern betrieb unterm Strich, der auffällig ins Runde ging, der brave Soldat Schwejk als Wiedergänger eines zivilen Ungehorsams sein Wesen. Das nicht Gehorsame entsprang dem kindlichen Gestus des Erwachsenen, der für Kinder produziert, und der sein Heil sucht in der Kunst vor dem Arrangement mit der Langeweile, der Trauer, der Einsamkeit und dem Tod, das wir Erwachsensein nennen. Einem Kind kannst du nichts vormachen, es kommt alles zurück.

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Die Arbeit fürs Kind - von der pädagogischen Arbeit am Kind nicht zu trennen - ist Maßstab und Motiv für Bofingers Produktion, deren zentrale Angelegenheit der Ernst des Lebens als sein Unsinn ist.

Der Zeichner hat die Utopie für Kinder (die sie als Erwachsene erleben sollten) in tröstlicher Weise ausgemalt, die pionierhimmelblaue Gegenwart in verlockende Nähe zur kaugummiblasenvollen Buntheit des Comics gestellt, dass zu hoffen war: Du bist gemeint. Das Kind das ich bin darf sich erkannt und angesprochen fühlen. Erkennen ist Wissen und Wissen ist Macht, das blieb in diesem Vademekum deutlich zu verstehen. Dass das aufgeklärte Kind dann doch nicht die sozialistische Ordnung zur kommunistischen hin überwand, ist ihm, Bofinger, nicht anzukreiden. Vorzuwerfen bleibt ihm eine Form der Überproduktion, die nach den Regeln der Ökonomik zu nichts anderem führen konnte als einem Surplus, das seinen Schöpfer mit vorzeitigem Erlöschen bedrohte.

Wer von der Kindheit spricht und ihren ersten Bildern, spricht, wenn er Glück gehabt hat, von einem Bären namens Puh, von Mädchen, die Gretel oder Alice, von Jungen, die Max und Moritz, Emil oder Nils Holgerson heißen, vom weißen Walfisch Moby Dick und einem Plattfisch namens Butje, von Wilden Kerlen, Kleinen Prinzen, von schwarzweißen und farbigen Bildern, die ein Buch erst zu einem Buch machten und das Buch dann zur Welt. Einer Welt, die Phantasie nicht vormalt sondern aufruft im Kind, das sich im Zwischenreich vor der Wirklichkeit und ihren Albträumen behütet und gewappnet sieht. Als Erwachsner kommst du nichts ins Kinderbuch zurück, es sei, du machst dir selber eins.

Vielleicht hat der Kulturschock der deutschen Einheit Bofingers Ekelbücher befördert, jedenfalls verdanken wir und die Kinder in uns ihm jene heiteren Pamphlete gegen den Konsumterror in der Manier des Dr. Heinrich Hoffmann und der bösen Pädagogen Wilhelm Busch und Ringelnatz. Das Gänsehautbuch (Ein ABC des Grauens) und Das Menschenfresserbuch (oder Die Kannibalische Menschheitsgeschichte) sind seit ihrer ersten Auflage 1994 Klassiker des furiosen Kinderbuchs im Geist derer, die auszogen, das Gruseln tatsächlich zu lernen. Wer das Gruseln gelernt hat, behält ein Stück vom Kind in sich, auf jeden Fall ein wenig länger.

Die Bibliographie der von Bofinger seit 1966 verzeichneten Bücher - von Mark Twain und Otto Julius Bierbaum, Benno Pludra, Christoph Hein, Wolfdietrich Schnurre, Gerhard Holtz-Baumert, Fred Rodrian und Uwe Kant - zählt über zweihundert. Ab 1976 Bilderbücher ohne Worte, auf Karton gedruckte Graphik für Kinder, die Bilder lesen lernen. Ab 1980 tritt der Bildautor (im Samisdat) als Lyriker für ein Kind auf und erteilt sich von hier an zögernd aber zunehmend selber das Wort. 1992 ein für den Autor im Zeichner, den Zeichner im Leser, bezeichnendes Werk, Die Zitrone drückt sich gut aus (Ein Bilderbuch der deutschen Sprache). Im Jahr 98 dann der Sprung zum Autor eines Buches ohne Bilder. Im Krummen Löffel (Miniaturen einer Kindheit) scheint die abgerundete Gemütlichkeit der Zeichnung wieder auf, beiläufig erzählt und von kindlichen Schreckbildern perforiert wie das Farbband einer Schreibmaschine, die das Kind mit Fingerspitzen entdeckt.

Die fragmentarischen Geheimnisse des Pissoirs (und andere Beobachtungen aus nächster Nähe) sind geschrieben aus dem kindlichen Blickwinkel, in dem sich das Staunen mit dem Entdecken, das Erkennen mit der Selbsterkenntnis trifft. Unter Umständen ist das Leben nicht länger ist als ein Comicstreif:

Eine Etage über uns, bei Vater, Mutter und Hund, wohnte Werner, ein kleiner, blasser, dünner Junge, still und freundlich, mit Kassenbrille und hellblonden Haaren.
Die Eltern machten irgendwo in Berlin Hilfsarbeiten.
Beide waren nicht größer als ihr Sohn, und wenn sie zu dritt irgendwohin gingen, trug der Vater einen komischen steifen Hut und wirkte dadurch größer als Frau und Kind. Eines Tages nahm er dem Hund und sich das Leben.
Die Witwe hatte wenig Einfluß auf den Sohn, der bereits angefangen hatte zu trinken.
Beide zogen in eigene Wohnungen ganz in der Nähe.
Werner hatte Schule und Lehre nicht geschafft.

Acht Absätze und Schicksalsschläge weiter taucht die ins Unscheinbare driftende Witwe noch einmal an die Oberfläche für den Schlussstein der wörtlichen Rede:

Der Werner ist tot. Er hat bei mir Kaffee getrunken. Und er ist einfach vom Stuhl gefallen. Einfach so zur Seite gefallen. Mitten im Satz. Einfach zur Seite. Er hat mich angeguckt und ist zur Seite gefallen. Mitten im Satz.

Jeder Satz unter Umständen ein Absatz, jeder Absatz ein Schicksalsschlag. Wie Punkte, Komma, Strich zur Schöpfung eines Mondgesichts genügen.

Verknappung als Methode, wie sie der Karikaturist ausübt, der es dem Schriftsteller beibringen kann. Dass einer lernt vom anderen ist als weiterer pädagogischer Glücksgriff zu werten. Wer sich das typographische Lehrbuch Graf Tüpo, Lina Tschornaja und die anderen ansieht, lernt über Prinzipien des typographischen Funktionalismus soviel wie über die des graphischen und narrativen.

Wo Bofingers Œuvre die für die Jugend illustrierte Fibel von Robinson bis Struwwelpeter zitiert, wo der Regenbogen der Lumières weiter und weiter gemalt, wo immer aufs Neue der neueste Orbis Pictus ergänzt, das Alphabet für Kinder, Tiere und Analphabeten durch und durch buchstabiert, wo wieder ein nächstes Kapitel im großen Spottbuch seit Grandville begonnen wird - ist unter der Hand dieses Zeichners nicht weniger als ein Weltbild entstanden, dem wir kichernd, mit Staunen und mit Zuversicht entnehmen, dass erst die Betrachtung der Dinge die Buchstaben ins Leben holt. Weiter, dass die Buchstaben den Dingen, die wir betrachten, einen Namen geben, aber keine Seele. Die Seele der Dinge um uns sehen wir mit den Bildern, die unsere Vorfahren aufbewahrt haben in oft nur einem Buch, das alt und abgegriffen die Hände der Generationen durchwandert. Die Erinnerung an so ein Buch, und unter Umständen ist es die Bibel, ist mit dem kollektiven Gedächtnis verflochten wie der Schößling mit dem Wurzelwerk eines totgeglaubten Baums. Der Sammler Bofinger, dessen Bibliothek Schätze umfasst, von denen Fachleute jeden Alters träumen, bewahrt dieses Gedächtnis.

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Die Freundlichkeit des schnellen Strichs, dem Bofingers Figuren in beschädigtem Einverständnis mit den Verhältnissen entspringen, hat ihn tauglich gemacht für den staatlich subventionierten Witz, wie er für die DDR-Bevölkerung im Eulenspiegel zu erwerben war. "Nicht denken, Philosoph sein!" war die volkseigene Maxime, die den Mangel, beispielsweise, an Kritik und den Überschuss an Bevormundung in Konturen des Erträglichen versetzte. Die staatlich gelenkte Selbstsubversion wurde für den Anschein der Authentizität als Mangelware dosiert. Bofingers Kommentar, ein Flüsterwitz zwischen zwei Trenchcoats, geht so: Sprechblase 1: "Die Satire müßte noch schärfer sein!" Sprechblase 2: "Das können Sie laut sagen!"

Dass Karikatur und Kabarett die Narrenkappe höher tragen durften als andere Kunstproduzenten im Staat - Künstler waren da an langer Leine laufende Kentauren - war Teil der Abmachung, dass gemeckert werden durfte ohne Ende, solang der Sozialismus nicht in Rede steht.

Die Karikatur ist so alt wie die Zeichnung, vielleicht älter. Der Zeichner Manfred Bofinger hat seine Spuren in der Epoche von Mickymaus und sozialistischem Realismus ausgelegt; sein Entwurf ist die zeitgenössische Spielart des Bilderbogens, der die Welt für Kinder zu erklären sucht, seit Rousseau das Kind als Menschen im Gesellschaftsvertrag paraphiert hat. Der Gebrauchsgraphiker hat sein Handwerk beharrlich als solches verstanden: die Hand, die das Werk ausführt mit den Mitteln, die erfunden waren, bevor die Bilder laufen lernten. Bevor der Warencharakter der Kunst ihrem Gegenstand immanent wurde. Er hat den Bastelbogen als Grundlage seiner Kartographie des kindlich menschlichen Wesens verstanden, hat ihn als Poesiealbum einiger Kindheiten beschrieben und pflanzt sich so fort. Seine Plakate, Vignetten, Karikaturen, Schul- und Kinderbuchillustrationen haben Aussehen und Einsicht des Landes geprägt bis in den sprichwörtlichen Winkel und waren willkommen. Wer Lesen, Schreiben, Rechnen lernte und lehrte, wer Englisch und Französisch (für den hauptsächlich inneren Gebrauch) studierte, wer zur Mülltonne ging, wer Karten spielte und Kalenderblätter umschlug, wer Witzblätter sah und nicht sehen wollte, wer mit Nah- und Fernverkehrsmitteln fuhr, kam an Bofinger schwer vorbei. Wer überhaupt ein Buch ansah, bevor er lesen konnte, sah seine runden Minimalgestalten auf handlichen Pappseiten an und ging damit begreifen. Das Signet des Kinderbuchverlags war von seiner Hand in einen ballonförmigen Pegasus verwandelt worden, der als Puck am Bilderbücherhimmel schaukelt.

Ohne dass aus Bofingers Figurenarsenal ein verwertbarer Held erstanden wäre - kein Tim, kein Kleiner Nemo, kein Atomino - bestand seine Personnage aus den immer erkennbaren, von der runden Linie ausgehenden Strichmänneken. Sie, die ihr Gesicht erst erhielten durch ihre Gesichtslosigkeit, waren wirkungsmächtige Fußnoten am ideologiedurchwirkten Kontext ihrer Zeit. Nicht dass der Zeichner mit dem abgekürzten Namen zum Philosophen reüssierte, in Anspruch genommen als solcher wurde er schon. Wer im Osten eine Kindheit hatte, die um 1970 losging, der wurde mit Bofinger groß. Wer seine um 1990 ablegte, konnte mit den Augen seiner eigenen Kinder den entfesselten Bofinger entdecken. Der Abschied von der rundlichen Figurine schien sich in ausfransenden Formen zu entladen, Farbe bekam, auch durch erweiterte Druckmöglichkeiten, durch habbare Papiere einen Tiefencharakter. Der Gestus wurde ungehaltener, weniger friedlich, freundlich, bissig mitunter. Am deutlichsten im collagierten Bild, das Risse und Brüche einer graphischen Biographie herausstellt, statt sie zu verbergen.

Wie viel von allem, wie viel Neues wir noch haben werden, ist ein Geheimnis, dass Manfred Bofinger nicht aufdecken kann. Die Entscheidung, ob überhaupt und wann obliegt ihm nicht mehr. Der entfesselte Zeichner verbringt sein Leben, unfähig einer Regung außer Blicken, seit Dezember letzten Jahres im Koma. Am 5. Oktober wird er 64 Jahre alt.

Thomas Martin, geboren 1963, zeichnet nicht, schreibt nur - hier das erste Mal über Manfred Bofinger.


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