Da strahlt die Gemeinde

JESUS LEBT Spiel, Passion und Prosperität in Oberammergau im neuen Jahrtausend

An der Nordwand des Kofel wachsen die Flechten zum Kreuz. Bei günstigem Wetter hebt es sich perspektivisch vor und scheint einen Schatten über Oberammergau zu legen, natürlich als ein gutes Zeichen. Denn Oberammergau, so steht es im Poststempel, ist "offen für die Welt". Im Wappen des Dorfes werden zwei Schwurhände zum Kreuz gehoben, von dem noch das Schweißtuch des Erlösers hängt. Das theatralisch Verspielte der Geste weist auf den Ruhm des Dorfes hin: sein im zehnjährigen Intervall aufgeführtes Spiel nach den Evangelisten und Bildern des Alten Testaments im Passionsspielhaus. Ein Bauern-Bayreuth, das mehr Zuschauer zieht und mehr einspielt als Wagners Wahnsinnsoper im Grünen. 33 Millionen DM sind es dieses Jahr, die in die Spielzeit zwischen 21. Mai und Mitte Oktober investiert werden, mit Einnahmen von 250 Millionen wird laut Financial Times gerechnet. Streng kommerziell katholisch, meint der Durchreisende zu erkennen, aber die Wurzel sitzt tief und weitaus verflochtener als die überschaubare Kreuzform.

Das Festhalten am Glauben und am Spiel haben dem Dorf im Ammertal eine Weltläufigkeit verschafft, die es im Vergleich zu anderen 5.000-Seelen-Gemeinden zur Metropole macht. Der in die Generationen schneidende Zehnjahresabstand suggeriert dem Außenstehenden einmal im Dezennium den gewinnträchtigen Kontakt zur Außenwelt, die Hausse der Oberammergauer Tourismusbörse, während er den Dörflern vielleicht umgekehrt zehn Jahre Arbeit am ökonomischen Netzwerk und einmal dazwischen Läuterung im Spiel bedeutet. Für ersteres steht die aktuelle Werbekampagne der Zigarettenmarke "WEST - Da strahlt die Gemeinde!", die großflächig am Ortseingang plakatiert ein beleuchtetes Altarfenster zeigt, aus dem sich ein Imbissbudenchristus mild über die ins Glas installierte Zigarettenpackung beugt. Für das Pestgelübde von 1633, fortan dem Herrn ein Passionsspiel zur Vermeidung der Plage zu widmen, mag das Oberammergauer Wappen stehen.

Gewissermaßen ist die Oberammergauer Passion der Internationalität zu verdanken. Genau gesagt, den Schweden, die unter Gustav Adolf auch in Süddeutschland tobten und die Pest ins Dorf gebracht hatten. Zweihundert Jahre wurde auf dem Friedhof gespielt, was den Naturtalenten im Dorf oft genug den Verdacht auf Mummenschanz bescherte. Als 1830 Ludwig I. die Spielbewilligung erteilen sollte, tat er das unter der Bedingung, dass die Dörfler sich von den Gräbern fernhalten - und sie bauten das Passionshaus auf die Wiese, das den Grundriss noch heut vorgibt. Weltlicher Gewinn hat sich dann später eingestellt, als unübersehbares Zeichen dafür ist die von Ludwig II. gestifte Kreuzigungsgruppe auf einem nahen Hügel zu besichtigen. Was der irre Bayernkönig "seinen kunstsinnigen Oberammergauern" zum Dank und zur privaten Erbauung als damals weltweit größtes Steindenkmal errichten ließ, zog dermaßen viel auswärtiges Volk an, dass die Ruhe des sinnsuchenden Königs hin war und der Tourismus übers Dorf brach.

Im April 2000 melden die Reiseveranstalter, dass über "Christliche Reisen" noch "Pauschalarrangements" ab 998 DM für vier Tage inklusive Eintrittskarte zu ordern sind; der Berg Ararat, auf dem Noah mit der Arche strandete, wegen der Kurdenguerilla seit 1993 gesperrt, kann wieder bestiegen werden, der Deutsche Alpenverein organisiert "Trekkingreisen" im Sommer; das lässt sich neben weiteren Lokalnachrichten übers Radio erfahren, das gut abgestimmt zwischen Tutzing und Murnau berichtet, dass der Spielleiter des Passionsspiels Christian Stückl, ab 2002 Intendant des Münchner Volkstheaters wird, die Stadt freue sich darauf. Einblendung Stimme (weiblich), die verkündet, wie stolz das Ammer-Dorf auf "unsern Christian" ist.

Stückl, 38 Jahre alt, und 1990 erstmals vom Oberammergauer Passionsspielkomitee zum Spielleiter gewählt, ist die zunächst physische Ausnahmeerscheinung eines deutschen Regisseurs. Von schamanenhafter Nervosität durchdrungen und einem Zigarettenkonsum erlegen, der einen Werbevertrag mit Philipp Morris vermuten lässt, ist er als Massendompteur, der den dörflichen Widerstand gegen religiöse Deutungen zum harten Schauspiel kanalisiert, zu erleben. Äußerlich einem Jesusdarsteller aus den Kolonien des Glaubens ähnlich, vielleicht aus Indien, wo Stückl vor Jahren einen Sommernachtstraum mit Unberührbaren, die sich gegen die (von der britischen Kolonialmacht verhängten) Regeln auf der Bühne dann tatsächlich berührten. Gelernter Holzschnitzer vom Dorf, dann Regieassistent in München und schließlich der Provinz Entsprungener, der den Nachlass Werner Schwabs herausbringt. Fast wäre die Passion 2000 auch zur Uraufführung geraten, doch Tankred Dorst, nicht Oberammergau-gebürtig noch -ansässig, der eine Neufassung in Arbeit hatte, wollte auf Autorenruhm und Rechte nicht verzichten: Grundbedingung für Passionsteilnehmer.

Stückls Realismus ist vom Dorf geprägt, man könnte es genetisch nennen. Die Verankerung in Landschaft, Glauben und Geschichte macht ihn gegen Trends und Moden resistent, misstrauisch auch gegen Tradition. Ein Regisseur, von keiner Avantgarde erkannt, den das Stigma der Passion antreibt, mit Traditionen jeder Herkunft zu brechen. Sein Engagement, auch den über 35jährigen und verheirateten Frauen des Dorfes das Spielrecht mit Hilfe des Bayerischen Gerichtshofs durchzusetzen (was ihm Stimmen für die Wahl zum Spielleiter brachte), war neben dem Dorfkrimi um ein betrügerisches Reisebüro, das mit 20.000 Karten, ohne sie zu haben, schacherte, vor zehn Jahren Thema im Sommerloch der deutschen Einheit, das im übrigen von der Währungsunion und den Assimilationszwängen der Ostdeutschen gefüllt wurde, die ihren Staat auf Zeit zu Ende lebten.

Das Passionsdorf bleibt von allem unberührt, und, glaubt man den Zeitungen, ein Rätsel. Rätselhaft die aller ironischen Berichterstattung widerstehenden Dorfbewohner, die, was den männlichen Teil betrifft, langbärtig und in Matten mit der Ruhe des Propheten ihrem Alltag nachgehen, was ihnen das "cool"-Prädikat der jugendlichen Bajuwaren verschafft. Rätselhaft das mürrische Weigern der Laienspieler, aller Bibelforschung ungeachtet, Christi Verklärung zu spielen, selbst wenn sich herausstellen sollte, dass er ja doch Palästinenser war. Rätselhaft das Kollektivverhalten quer durch alle Schichten. Rätselhaft der alle zehn Jahre wiederkehrende Boom des allgemeinen Rätselratens. Dazu der sagenhafte Reichtum des Hi-Tech-Dorfes hinter den Wäldern. Von Neid, Unglauben und Staunen umgeben, leben die Unverführbaren ihr "Spiel der Erlösung", das möglicherweise Erlösung durch Spiel bedeutet, wenn man es wüsste. Wir glauben, was wir wissen - glauben wir zu wissen. Hier hat wenig mehr Gewissheit als der Turnus der biblischen Personage inklusive Kreuzigung und Himmelfahrt.

Welche Idee kann es im Jahr 2000 lohnen, sein Leben zu opfern? Die Oberammergauer stellen der Frage die Bühne als Prüfstand ihrer Heiligen zur Verfügung. Glaube, Liebe, Hoffnung werden über den Gottesdienst hinaus alle zehn Jahre öffentlich in der bekannten Lektion verhandelt. Das Spiel scheitert, wenn das kathartische Ringen um die "richtige" Abbildung der biblischen Vorlage dem Erfolg vor zahlenden Touristen geopfert wird. Das Ringen trägt die Schuld der kolossalen Einnahmen ab.

"Was hast du empfunden, Judas, als du deinen Herrn verraten hast!?" Als Bayerns Ludwig im September 1871, nach der für ihn gegebenen Separataufführung jedem Hauptdarsteller einen silbernen Löffel verehrte, bekam der Mann, der Judas war, seinen aus Blech. Wo jahrhundertelang der selbstsüchtige Verräter den Juden des Hohen Rates den stets weniger als Juden dargestellten Jesus ausliefert, wird heut ein psychologisch ausgefeilter Prozess inszeniert, der für die Widersprüchlichkeit des Gläubigen steht - sei er einer von 4.700 Katholiken oder einer der dreihundert aus der evangelischen Gemeinde: Judas als enttäuschter Jünger, der seinen Meister für die Idee des Aufstands gegen die römische Besatzungsmacht verrät und am Gewissensbiss danach erstickt. "Hier soll die unglückseligste Frucht hängen. Komm, du Schlange, umstricke mich!" Das Seil, das Judas sich um die geschwollne Kehle legt, ist die zum Gegenstand gewordene Kopplung an den Mythos. Versuchter Rücktransport ins Paradies, das die verbotnen Früchte birgt, deren Genuss die Katastrophen des Fortschritts ausgelöst hat. Die Erbsünde, der wir nach dem Glauben unser irdisches Dasein verdanken.

Die Nähe zum kommunistischen Gedanken, der zwar in Oberammergau nie revolutionäre Verführungskraft besaß, wurde 1970 im Anschluss an die 36. Passionsaufführung im "Report Oberammergau" offensiv. In Abwandlung der "Internationale" wies der Untertitel, "Völker hörten die Signale. Eine Weltdiskussion", auf das Spiel als mögliche Alternative zum Marxismus hin. Der wenig später von den Protagonisten des deutschen Herbstes pervertiert wurde. Die Perversion war der Versuch, das Evangelium rückwärts zu spielen: die Erlöser steigen vom Kreuz und nehmen die Versuchung an, den Tempel in die Luft zu jagen.

Im Fotoalbum meiner Großmutter sind unter dem Titel "Empörung" zwei Postkarten nebeneinander geklebt. Das eine zeigt die Volk-von-Jerusalem spielenden Statisten, die ihr "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder" fluchen. Das andere zeigt Publikum und Dorfbewohner im Juni 1934 vor dem Gasthaus "Stern", von dem Hitler grüßend auf die Menge unter ihm blickt, die mit weit offnen Mündern und ausgestrecktem rechten Arm vor dem Messias des Dritten Reiches steht. Als meine Großmutter mit dem Knaben, der mein Vater werden sollte, auf dem Arm am Passionsspielhaus vorüber lief, reichte ihr Christus, der zur Brotzeit ausging, und weil er grad beim Händereichen war, die Rechte. Als sie eine halbe Stunde später unter den Jubelnden auf der Dorfstraße stand und der Führer im offenen Mercedes durch die Menge fuhr, konnte sie die Hand zum Heil nicht heben, wie sie sich erinnert hat. Die rote Flüssigkeit des Erlösers war klebrig mit dem eignen Handschweiß vermischt. Aber als Hitler die Hände auf der Gasse schüttelte, war es zu spät. Dass die Söhne Oberammergaus mit den Stigmata zur Welt kommen, hat mein Vater noch lange geglaubt.

"Drei Jahrhunderte des Passionsspiels lehren uns, dass die Treue zu Blut und Boden die Haltkraft allen Volkstums ist." Es sollte nicht allein die Jubelfeier Christi sein. "Deutschland ruft Euch!" war zwei Jahre vor der Berliner Olympiade gedacht, einem internationalen Publikum die neue Ideologie mit Engelszungen in die Ohren zu blasen. Reichswichtig! Es ist trotz verbilligter Eisenbahnfahrten und sozial verträglicher Eintrittspreise ein innerdeutsches Vergnügen geblieben. Zu stark schien der Kontrast zwischen Kreuz und Hakenkreuz, als dass sich ein weltreisendes Auditorium das "große Opfer auf Golgatha" auf dem Altar der Antisemiten vorführen ließ. Die außer der Reihe angesetzte Jubiläumspassion 1934 hat den Standard vorgegeben, der bis 1960 nach Korrekturen an "antijudaistischen Tendenzen" beibehalten wurde. Nicht erst mit Hitler ist es vorgekommen, dass - wie der Münchner Professor für Pastoraltheologie Ludwig Mödl im Vorwort zum diesjährigen Passionsspiel schreibt - "Zuschauer sehr naiv nach dem Besuch eines Passionsspiels den Tod Jesu an den jüdischen Mitbürgern rächen zu müssen glaubten".

Wie scharf das politisch korrekte Augenmerk der New Yorker "Anti-Defamation League" auf die Tendenz des Spiels gerichtet ist, zeigt die 18seitige Briefrede des Oberammergauer Lehrers und Passionsdramaturgen Otto Huber. Zehn Jahre zwischen den Spielen sind zehn Jahre interreligiöser Diskurs. Kronzeuge Hubers ist der Theologe Mödl: "Wo Menschen interessengeleitet oder boshaft sind, sind sie es als Menschen, die eben zufällig Juden sind ... Sowohl die Bösen als auch die Guten sind in erster Linie Menschen und nur in zweiter Linie Juden." Auch in der Kleinigkeit der Namensgebung des Erlösers hat Huber nachgegeben: der als Jesus in die Welt kam und als Christus aus ihr schied, soll in Oberammergau fortan nur noch Jesus heißen: "damit die gläubige Annahme des Zuschauers nicht mehr vorweggenommen werden kann".

In der Kantine des Passionsspielhauses hängt ein vergilbtes Foto neben der Theke, das ein Kind am Kreuz zeigt, auf einem Bauernhof umringt von Kindern, die mit dem Finger auf den kleinen Heiland zeigen. Oberammergauer Jungen, die um 1900 statt Räuber und Gendarm Passion spielen. Es ist vorgekommen, dass in der vom Schmelzwasser aufgewühlten Ammer ein Kreuz trieb, an dem noch der angenagelte Knabe befestigt war, ein Dörfler hat ihn rausgezogen. Wie in jedem Stadttheater schlägt das Herz in der Kantine. Die Spieler sind vertieft ins Bier und ihre eigne Exegese. Als zentraler Satz der sogenannten "Weis-Daisenberger-Fassung", die auf 1811 beziehungsweise 1850 zurückgeht, kann Jesu Replik auf Judas gelesen werden, als der die Salbung in Betanien tadelt. Man hätte die Salbe für teures Geld verkaufen und das Geld den Armen spenden können. Und was spricht der Rabbi? "Die Armen habt ihr allezeit, mich aber werdet ihr nicht immer haben." Abgesehen davon, dass Jesus in freier Auslegung der Szene als einer von "drei Brüdern" auftritt, abgesehen von der möglichen Deutung, dass Jesus gar nicht Christus wurde, erinnert dieser Satz an die Ahnung des Surrealisten Malraux: "Das 21. Jahrhundert wird ein Jahrhundert des Glaubens sein oder es wird nicht sein." Nach dem Verschleiß der Ideologien die letzte Hoffnung, die der Weltgeist hat im Börsengewitter.

Als am nächsten Tag 500 Leute in den langen Kleidern, die einen immer an das Krippenspiel erinnern, auf der Bühne stehen, kommt die Nagelprobe für die Hoffnung. Nach dreieinhalb Stunden und eingeschlafenen kalten Füßen, ich saß in der 48. Reihe im Zuschauerraum, der leider unbeheizt und offen an die Voralpen stößt, als mich ein ungeheurer Schrei aus meiner Unterkühlung riss. "Er sterbe!" Pause, Pause. Dann: "Ans Kreuz mit ihm!" Auf- und abschwellend, gespielt, als ob es um das Leben gehe, wie ein einziger, aus den Tiefen des Zweifels gurgelnder Schrei, der sich im Opferruf entlädt. Das an den zögernden Pilatus gerichtete, dreimal wiederholte "Kreuzige ihn!" aus der Empörung der Masse ließ mich sehen, was Canetti mit dem Umschlagen von der Jagdmeute in die Siegesmeute meint. Ich saß zusammengekrümmt auf dem Klappsitz und wagte keine Regung. Obwohl es da unten nur um das Arrangement für ein buntes Foto ging, sah ich ein grausames, sinnliches Theater, nicht sein Double, wie ich es erwartet hatte.

Eine einsame Frühjahrsschwalbe segelte piepsend durchs Gebälk und landete auf Pilatus' Balkon. Sie war jetzt näher dran als ich, und was sie sehen konnte, war für diesen Moment das größte Laienspiel der Welt seit Eisensteins Oktober. Ich staunte und begriff, dass das schlechte Gewissen im protestantischen Blick hier viel verbauen kann, wo der katholische gleichzeitig allerhand Gaudi zur Erbauung sieht. Nicht nur Glauben wird gespielt, auch spielend wird geglaubt.

Vielleicht ist dem, der keinem Glauben angehört, der aus dem östlichen Berlin nach Oberbayern kommt, das Spiel so fremd, weil die Religion dranpappt wie die Weihnachtsgeschichte am 24. Dezember. Vielleicht, dachte ich, reicht es ja hin, zu hören, zu sehen, zu weinen, wenn es sein muss, und zu lieben, wenn es anders nicht geht. Ich sah in die Gesichter, die mir sehr offen schienen, bäurisch und von innerer Gelassenheit, gezeichnet von der Landschaft, von der Tradition und von der Römerstraße, die jahrhundertelang hier verlief (und weiter südlich zur bewussten zeit noch mit bemannten Kreuzen bestückt war) und die den italienischen Einschlag zu verantworten hat. Ich sah noch einmal hin, hörte im Weggehen Pilatus' klägliches "Wasser", setzte mich ins Gasthaus "Stern" und bestellte einen Humpen dunkles Bier.

Als ich rauskam war der schönste Frühlingstag. "Sonne lacht - Sowjetmacht", pfiff ich und lief los. Bald hatte ich mit mittlerer Ungeduld den Kofel erklettert durch immer noch brusthohen Schnee, um selbst zu sehen, was an Feuchtwangers Diktum vom "Reklameberg" dran ist. Im Großstadtkostüm, Jackett und falschen Schuhen, konnte ich oben, nachdem ich aus lauter Angst vor der beschworenen Lawinengefahr, auch noch den falschen Weg gestiegen war, am Gipfelkreuz unter den geschnitzten Füßen "Der Weg zu Gott führt auch über die Berge" lesen. Wenn er nur auch wieder runter führt, zweifelte ich und verlief mich in den Stunden bis zur Dunkelheit prompt.

In der Nacht hallt Hufschlag durch die Gassen. Es ist Seitz, der Hauptmann unterm Kreuz, der in Stückls Interpretation die Lanze in die linke Seite Jesu sticht, ins Herz, in dem der Glaube sitzt. Der Hauptmann trägt Zivil mit Mütze und trainiert mit seinem Gaul - der nebenbei bemerkt dem Bürgermeister Fend gehört - den kurzen Schritt. Die Dorfläden liegen im Dunkel, die Kneipen sind voll, und in der Kantine sitzt Kaiphas wühlt auf der Suche nach dem geeigneten Motiv für das T-Shirt-Geschäft in einem Haufen Polaroids. Das erste Hemd ist schon gedruckt: ein Schmerzensmann schielt von der Baumwolle, und darunter steht "Buenos dias, Messias". (Nicht zum Verkauf bestimmt.) Kaiphas' Bruder Christus erzählt von einem Pastor, der eine Frage nach dem Himmel des evangelisch getauften Kindes eines Katholiken mit dem Hinweis auf verschiedene beschied. Der Unterschied sei geringfügig, aber vergleichbar mit dem zwischen Schreibmaschine und Computer. Und er sprach vom Internethimmel. Christus meint, in diesem Fall würde er auf den Himmel scheißen, dann stimmt was nicht mit seiner, des Pastors Religion. Spielleiter Stückl erzählt etwas von Peter Brook, der nach einem unerfüllten Wunsch befragt, gesagt hat: einmal Passionsregie in Oberammergau.

So könnte angenommen werden, dass sich die alte Häme, die von den Vertretern der Hochkultur und der Moderne im Zehnjahresabstand über das Laientheater gekübelt wurde, allmählich erschöpft. Die PR-Bemühungen spiegeln im Bildband jedenfalls ein ausgeprägtes Pop-Bedürfnis, das dem des deutschen Films nicht nachsteht. Bleibt die Hoffnung, dass Oberammergau wenigstens bis München kommt und nicht in Hollywood steckenbleibt. Vielleicht führt der Weg ja auch zurück auf den Friedhof im Dorf, zu den Toten, denen die Zukunft gehört. Das zu denken ist man versucht, wenn man den Frauen zuhört, die auf der Gasse ihr Schicksal bereden. "Ja, wie halten Sie das aus? Zwei Söhne beim Passion, der eine schreit am Kreuz, der andre hat'n hin 'bracht?"

Wenn zum Abschied ein Düsenjäger der bayerischen Luftwaffe durchs Tal brüllt, ist der Heilige Geist wahrscheinlich weit. Jesus schlägt die in der Kälte schlackernden Knie ums Kreuz, reckt die blutbefleckte Stirn in einen Sonnenstrahl und übt sein "Eloi, lama sabachtani!", das wie ein Echo von "Alois" klingt. Noch 28 Tage zur Premiere meldet der Countdown im Garmisch Partenkirchner Tagblatt. Ein ortsunkundiger Journalist tappt hinter der Bühne im Dunkeln und erkundigt sich: "Pardon, wo gehts denn hier zur Peinigung?" Ich dachte an den Schluss der üppigen, seit langem nicht gespielten Barockdichtung des Benediktinerpaters Rosner, der schwarzrot geflügelte Teufelchen den verröchelten Judas umflattern lässt, bevor die Seele oben aus dem Mund rauskommt. An ein bäuerliches Volkstheater, das Jesus auf einem Esel aus Sperrholz erobert und in dem die Schergen alle aussehn wie Karl Valentin. Ich dachte an den Schluss des alten Spiels, in dem die letzten Worte einfach "Nun Vater, in deine Hände / Befehle ich meinen Geist, das Leben endt" lautet, und ging.

Zu den Oberammergauer Passionsspielen (21.5.-8.10.2000) erscheint ein Katalogbuch mit Fotografien von Brigitte Maria Mayer. Passion 2000. Oberammergau, München 2000, Pestel Verlag, 160 Seiten, 130 überwiegend farbige Abb., 39,80 DM

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