Drehpunkt der Geschichte

17. Juni 1953 Ein Gespräch unter Generationen über Rauchschwaden, leere Straßen und Menschenaufläufe

(Meinen Eltern, mir selbst, meinen Kindern)

Der 17. Juni, was ist das? Gedenktag der Einheit, Prüfstein der Teilung? Oder, von heute aus gesehen, zukunftsweisendes Memorial? Und wenn ja, wohin weist es, die nächsten 50 Jahre? Wie soll ich das wissen? (Musst du nicht wissen.) Und wie war es? Der 17. Juni, das ist ein Datum, darauf darfst du nicht mit Fingern zeigen, den Tag lass´ in Ruhe. (Hab ich ja gemacht). Warum? Das zu fragen lass´ lieber bleiben. Und wie war es?

Es war ein Abgrund der Geschichte, nicht hineinsehen! Erst später, sagen wir, eine Generation danach, kannst du erkennen, dass da etwas schlummert, ein Mahlstrom, der von heute aus gesehen nichts anderes ist, als das, was wir gewöhnlich Utopie nennen; die ist ja nicht immer Sonnenschein an preussisch-blauen Pionierhorizonten gewesen. Sie kann auch dunkel sein, unscheinbar und trübe, kann Glutaugen haben und bis an die Ellenbogen Blut. Was haben wir heute davon? Es ist noch ein Haufen Schutt wegzuräumen.

Ich zum Beispiel kann eigentlich nicht mitreden, ich war noch nicht da. Was ich darüber weiß? 2003 herrscht Frühsommerhitze am Strausberger Platz, wo es damals anfing. Die Straßen sind leer. Auf einem Platz in der Nähe kriegst du unter der Hand für einen Euro Die kommunistische Ideologie, auf einem anderen Das konsumistische Manifest. Und sonst?

Feiertage zum Beispiel, die gibt es übergenug. In der ostdeutschen Republik waren das mit den kirchlichen zusammen 36 im Jahr. Vom 12. Februar ("Tag der Werktätigen des Post- und Fernmeldewesens") bis zum 30. Dezember ("Gründung der KPD 1918"), sieben davon arbeitsfrei. Der 17. Juni war, umfasst vom "Tag des Lehrers" am 12., dem "Tag der Genossenschaftsbauern und der Arbeiter der sozialistischen Land- und Forstwirtschaft" am 18., im Register nicht zu finden. Das janusgesichtige Datum stand in der deutsch-deutschen Geschichte da wie ein vereistes Drehmoment. Im Westen als "Tag der deutschen Einheit" mit überlauten Schweigeminuten beschrieen, im Osten als gewöhnlichster der Wochentage totgeschwiegen, dem in drei möglichen Dezennien je ein übler Nachruf beschieden war in ein und derselben Zeitung. Da mochte die "Ich-klage-an"-Salzsäule auf der Straße des 17. Juni die Schallhände gegen die Mauer ringen, wie sie wollte, sie kam nicht dagegen an.

Er stand da wie ein Wendepunkt, der Tag, wo die Tür in der Angel sich dreht, man hätte durchgehen können in eine Richtung der Geschichte oder in eine andere. Aber da war keine Tür. Zu viele waren zuvor schon gegangen, weg vom Staat, der sich, vormundschaftlich wie er war, der Masse nie verständlich machen konnte, die weniger Wert auf mehr Meinung als auf mehr Ruhe legte, ordentlich Arbeit und Lohn mehr als nur Butter aufs Brot verlangte. Ich habe nachgesehen im Geschichtsbuch 10. Klasse (Volk und Wissen, Berlin-DDR 1977): Der Junitag wird dort im dritten Kapitel notiert ("Die Festigung des sozialistischen Wertesystems und der Kampf gegen die imperialistische Aggressionspolitik von 1949 bis zum Beginn der sechziger Jahre"). Und unter Absatz 3.3 steht: "Das zunehmende Scheitern der imperialistischen ›Politik des Kalten Krieges‹".Fett ausgedruckt sind die Stichpunkte zu lesen: "Konzept der Einverleibung der DDR" - "Störungen in der Wirtschaft" - "Tag X" - "konterrevolutionärer Putschversuch" - "Agenten westlicher Geheimdienste und andere gekaufte Subjekte" - "Arbeiterwehren" - "Kampfgruppen der Arbeiterklasse". Westliche Lektüre der Zeit liest sich bekanntermaßen anders: "Stalinismus schürt Volkszorn" - "gegen die Erhöhung von Arbeitsnormen" - "Die Parole lautet ›Freiheit‹" - "Das Deutschlandlied" - "Sowjetpanzer walzen Arbeiteraufstand nieder". Dazwischen war kein Fußbreit zu kriegen. Das Jahr ´53 selbst wird im weltsozialistischen Kalender mit der "Einführung der elektronischen Rechenmaschine ›Strela‹ in der Volkswirtschaft der Sowjetunion" registriert. Da hättest du an allem lange zu rechnen.

Der 17. Juni, ein Tag, den lass lieber links liegen. Ob es ein Sonntag war oder ein nicht ganz gewöhnlicher Werktag, das kann man in alten Kalendern nachschlagen (es war ein Mittwoch). Es war ein gemurmelter Tag, er sollte nebenbei bleiben. Wenn du aber einmal Bescheid wusstest, blieb er umweht wie der 13. August (ein schöner Sonntag), dessen Tagesablauf dir 24 Lebensjahre in Materie vor den Augen stand in sogenanntem Sichtbeton (1961 - 1989). Aber dahinter war etwas, das zu sehen war in der Ferne wie auf Postkarten gemalt ein teils gleißender, sauberer Hochhaushorizont, immerzu im Sonnenuntergang und für ewig, lange her. Die von Kunstlicht kolorierte Fernsicht immer verbunden mit den düsteren Daten, hüben und drüben anders beschrieen und verschwiegen, anders gefeiert. Konnte dich das auf Geschichte neugierig machen? Ja, konnte. Und wie bis vor fünfzig Jahren der höchste Berg auf Erden nicht zu besteigen war und jetzt kaum mehr zu sein scheint als ein Dunst vom Flugzeug aus (auch Fliegen war eine Ewigkeit Utopie), lässt sich nach 50 Jahren erst der Abgrund ausleuchten, jetzt wo er eine Lache ist abseits vom Weg.

Was der Tag mit uns und mit heute zu tun hat? Rechne nach mit der "Strela", zähl die Traumata- und Feiertage der integrierten Europäer zusammen, und das Jahr ist dreimal voller als es dreihundertfünfundsechzig Tage aufzubieten hat, siehe oben. Die Tage kannst du nicht einfach streichen, die musst du aufwendig begraben mit Namen und Hausnummer und allem. Und übrigens, manche wollen wissen, wo sie hergekommen sind.

Aber, nur zum Beispiel, Utopie, das überhelle, eingerußte, nun wieder aufgehellte Wort; angezählt seit vierzehneinhalb Jahren, seitdem ein Ostblock (das war eine Weltanschauung mit 500 Millionen unmündigen Bürgern) in sich zusammenfiel und das Wort wie eine Mumie im Keller begrub. Das Wort kommt zu neuem, noch geborgtem Glanz, im Halbsatz zwischen Europa ("Wohin?") und Identität ("Wozu?"). Und was hat das eine mit dem anderen zu tun? Geh´ ins Museum, lies´ nach in der Zeitung. Geh´ auf die Straße und sieh dir abends im Fernsehen zu, wie du (zum Beispiel) an einem Nachmittag im Februar überall auf der Welt gegen den Krieg demonstrierst. Der größte Marsch für den Frieden seit dem Zweiten Weltkrieg; das klingt wie ein Witz. Es war ein bedachtsames Meeting, ohne Zorn eigentlich, unter dem Regenbogentuch der Utopie.

Das war kein Aufstand gewesen, Aufstände sehen anders aus. Es müssen einige aufstehen dazu. Das ideologiefreie Europa, der utopiefreie Raum (jetzt auch samstags bis acht Uhr am Abend geöffnet!) wird es dir mit den Stimmen seiner Vordenker in mindestens vier Sprachen danken. Aber ich? Wo komme ich her, wo will ich hin? Ich gehe Pfingsten durch die Parks und über die Plätze Berlins, wo der Geist in Schwaden leicht entzündlichen Presskohlesurrogats über Rostbratwurst und Steaks in Soße ausgegossen wird; du riechst es, kannst es sogar vom Flugzeug aus erkennen. "Hunger?" ist keine Frage mehr außer in der Werbung. Pfingsten im Gemenge, nach dem Kalender noch acht Junitage bis - dann wird wieder so ein Denkmal geweiht werden und die Straße ist voll. Der 17. Juni ´53 lässt mich zuerst, entschuldige, an die Masse in Bewegung denken; da fragt einer sich immer wozu und wohin und was hab ich davon. Heute hier, wo findest du da die Motive. Der Krieg, der uns eint, findet anderswo statt.

Auf dem Karneval (der Kulturen) in Kreuzberg kannst du die Kinder sehen, kleinere, die haben Nummern auf den Unterarmen, elfstellig jetzt, die zeigen sie vor, wenn sie verloren gehen, einen Kindersuchdienst brauchst du nicht mehr. Aber die Energie, die sie hier spazieren tragen, die hat den kinetischen Wert eines Aufstands. Ein Gast aus Frankreich hat gesagt, dass ihn die Rauchschwaden über den Parks, die gespenstische Ruhe im einen, der Menschenauflauf im nächsten Stadtteil, an Bilder aus Schulbüchern erinnert, die den 17. Juni in Berlin zeigten, schwarzweiß, oder Budapest im November, Prag im August, die Tage in Polen. Friedlich war es damals nicht, und es wird nicht nach Barbecue gerochen haben. (Im Pariser Mai ´68 auch nicht.) Viele haben sich anders bewegt, sind gerannt, bedroht von Gewalt, während sie heute in Berlin, das vor 50 Jahren hauptsächlich Ruine war, die Wiesen bevölkern, besetzt halten und abgenagt haben, dass es so aussieht, als ob die Überbevölkerung hier zu Buche schlägt.

Nebenbei, was verbindet eine Generation von Deutschen, die hier wie dort im Sperrfeuer der Nachkriegsideologie aufgewachsen ist, die unter der Dunstglocke des Marshall-Plans und im Klima der eisernen Lunge der Reparationen nicht zueinander gefunden hat, was verbindet die heute? Was sie auf jeden Fall trennt, ist das Geld. Besitz, den du hast und ich nicht. Und wenn die Welt, sagen wir in Europa, sicher eingerichtet ist, keine Kriege mehr, soziale Befriedung als Steuerabschreibeprogramm der Industrie, dann bleiben die natürlichen Katastrophen die Hoffnung, weil wir dann keine anderen haben.

Vielleicht findet sich hier das Wozu, das die Menschheit benötigt, die nach Aussage der Demoskopen in 50 Jahren keinen Anstieg der Bevölkerung mehr verzeichnen wird, auch nicht in Asien oder Afrika, wenn im selben Zeitraum die Ressourcen Gas, Kohle, Öl aufgebraucht sind. Vielleicht. Dann ist die letzte Utopie die Befreiung der Erde von uns.

Dann erinnern wir uns noch einmal an den 17. Juni und andere aufständische Tage, als der Kontakt zu einem ungeliebten Staat gewollt war wie nie wieder danach, wenn auch die Begegnung eine Attacke gegen die harte Umarmung war, im Versuch, ein Gesellschaftsmodell mit Gewalt gegen die Umstände durchzusetzen. (Es hätte auch anders kommen können, sagst du - wie?) Die Umstände waren nur zur Hälfte politischer Natur, und auch die wurden von Menschen gemacht. Wir hatten es in der Hand gehabt, im Juni (sagst du). Denn es war, das wirst du vielleicht nicht wissen, so: Die als Klasse im doch klassenlosen Kleinstaat definierte (depravierte) Spezies der Arbeiterschicht hatte keine Sprecher (mehr), nie eigens hervorgebrachte Köpfe, dafür von der Staatsführung (Parteiführung) oktroyierte, die bestenfalls der Ventilation kritischer Stimmen und Bewegung dienten. Und dass acht Jahre nach Kriegsende Arbeiter Arbeiter waren, wie wir uns Arbeiter vorstellen, will ich bezweifeln; denn die der Herkunft nach Arbeiter waren (sag´ ruhig Proletarier), waren im Krieg beziehungsweise in Kriegsgefangenschaft geblieben; die die auf dem Bau zu schwerer Arbeit und entsprechenden Vergünstigungen für sich und ihre Familien kamen, waren zu nicht geringem Teil sträflich Versetzte (Funktionäre, Kleinbürger, Beamte), die sich im Nazisystem schadlos und aus dem Krieg halten konnten. Die mischten da mit. Vom Westen will ich nicht reden. Und der Staat konnte das nicht anders regeln, weil keine andere Masse verfügbar war. Und ohne das Rigide ging nichts in der Frühzeit. Die Masse der Arbeiter(-schicht oder -schaft, wie du willst) konnte sich nicht formulieren, nicht formen. Sie wurde still gehalten und hielt; sie wurde durch Zugeständnisse an den Lebensstandard reguliert.

Einen Dialog, wie ihn zum Beispiel Brecht gefordert hat, im Juni damals, hat es nicht gegeben. Die große Aussprache, sie kam nie zustande, nach 1961 nicht und auch ganz am Ende nicht, als die Masse, auch keine Mehrheit übrigens, mit den Füßen gegen das hohle System abgestimmt hat. "Die Weisheit der Massen" war durchsetzt von Mitwissern und Weitersagern, du kannst sagen, die Weisheit war Staatssicherheit, ein offenes Geheimnis. Darunter war auch ein Abgrund. Wir erinnern uns (jetzt) an einen Landstrich unter dem Kürzel D.D.R., der für fünf Tage, eine nicht eben effektive Arbeitswoche lang zwischen der Großdemonstration in der Hauptstadt und dem Spaziergang durch die Mauer am 9. November 1989, einen anderen Horizont aufriss, an dem ein Gemeinwesen erschien, unbestimmt und anders als das heute Gelebte. Es war von einem Sozialismus die Rede, der als in Maßen freiwilliger Aufbauakt in Konkurrenz zur westdeutschen Republik (die als Übergangslösung anzusehen war) seine Vorteile erweisen sollte, ich habe vergessen, womit.

Was den Juni angeht, noch eine Geschichte. Ein Bildhauer, beauftragt, an der Weberwiese am Straußberger Platz (da, wo es anfing) einen U-Bahnhof der DDR-Hauptstadt zu gestalten, schlug vor, die zugekachelten Reklametafeln längs des Bahnsteigs nach einem Muster auszuführen, das bekannt war aus der Zeit, die heute 50 Jahre zurückliegt: Wer sich am Aufbau nach dem Krieg beteiligt hat, bekam für seine Einsatzstunden Marken ausgehändigt, die in ein Heft zu kleben waren. Ich weiß nicht, wie viele, am Ende konnte man ein Haus aus Marken zusammengeklebt haben, das hieß "Das Haus an der Weberwiese", welches das erste der Stalinallee werden sollte, schön gelegen am Teich trug es friedliebende Verse von Brecht über der Tür. Nichts gegen den Frieden, aber: "Dieses Haus wurde ohne Rücksicht auf die Rentabilität (Gedanken an Gewinn) zum Behagen der Bewohner und Wohlgefallen der Passanten errichtet" hätte mir auch gut gefallen. Heute vor allem. Auch ein Vorschlag von B. Sie haben sich anders entschieden. Der Entwurf des Bildhauers, prämiert im Jahre 1987, ist dann auch abgelehnt worden. Vorwurf: Zu nahe an der Stalinallee, die heute Karl-Marx-Allee heißt (wie du weißt), zu nah am Straußberger Platz, der Geschichte, die hier ihren Ausgang nahm vor 50 Jahren.

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