Von Brecht kommt der Vorschlag, fortwährend und im Umgang mit sich selbst das historische Bewusstsein zu schulen. Etwa so: Was habe ich getan, als die Chinesische Mauer gebaut wurde? Der Turm von Babel, die Cheopspyramide, die Hängenden Gärten, der Koloss von Rhodos, Mount Rushmore oder - was Brecht nicht wissen konnte - der Schutzwall. Der Vorschlag gehört zu den erhörten - Umfragen und Konversationen im Alltag belegen das. Jeder ab 50 schüttelt aus dem Ärmel, was er in der Nacht vom 12. zum 13. August 1961 getan hat, jeder hat sein Alibi. In Berlin.
Ich kann da nicht mitreden, ich war noch lange nicht da. Das gibt mir kein Recht stillzuschweigen, ich habe 20 Jahre mit der Mauer gelebt. Hinter der Mauer, von meiner Seite aus wie auch von drüben. Wer im Westen wohnte, war in jeder Hinsicht davor, raus und rein nach Schutzzollzahlung kein Problem. Was meine Kinderzeit angeht, kam die Mauer da nicht vor. Wo man auf sie traf, wo man an Grenzgebiet gelangte, hieß es »da ist Schluss«. Selbstverständlich für ein Kinderhirn, dass die Welt ein Ende hat, schließlich ist sie eine Scheibe. Nach der Mauer kam einfach nur noch nichts.
Jetzt ist sie selbst dematerialisiert, und dass Berlin damit sein Wertvollstes verloren hat, ist ganz offensichtlich, da die Stadt ihren Reiz in der Welt nur aus dem einen Fakt bezieht: hier ist die Stätte, wo die Mauer einmal war. Die Mauer. Die Mauer.
Nie war Mangel deutlicher. Wie verhält man sich als Bürger oder Besucher einer Stadt, der das metaphorische Wappen abhanden gekommen ist? Die Via Dolorosa der Deutschen, der Scheideweg Europas, der Vorhang zwischen den Welten, dem die sogenannte »dritte« ihre zweifelhafte Existenz verdankt - ohne Ost-West- kein Nord-Süd-Gefälle. Das Gleichgewicht ist anhaltend gestört. Die Berliner Trümmerstätte profitierte als Jerusalem der Neuzeit; Glaubensführer sind hierhin gepilgert, Kreuzzüge wurden zumindest projektiert, und es hätte alles auch ganz anders kommen können. Dritter Weltkrieg hier statt Dritte Welt in den Subkontinenten.
Anlässlich der nur äußerlich aufgewühlten politischen Lage der Stadt - wie hält man´s mit der PDS? - steht die Mauer im Bewusstsein der Bevölkerung, als ob die selbstständige staatliche Einheit West-Berlin vor der Türe stünde. Nochmal soll das Größte Bauwerk der Geschichte für die Machtfrage stehen. Darauf einzugehen, wird demnächst in dieser Zeitung noch Gelegenheit sein.
In der Draufsicht steht sie noch, die Mauer, als abwechselnd hell-dunkel gezogener Streif um die Hälfte der Stadt. Das Bauwerk - seit zwölf Jahren geschleift, die Schneise verweht, entmint, überwachsen, teils überbaut und streckenweise noch vorhanden - steht als Material den Historikern mit westdeutscher Deutungshoheit zur Verfügung. Der Postenweg, sofern man ihn aufspüren kann, ist größtenteils befahrbar, zuweilen schlägt man sich durch. Der frühere Todesstreifen ist von topographisch unterschiedlicher Struktur: auf der Nord-Südachse im zentral gelegenen Bereich nicht mehr vorhanden, in Polnähe dagegen jeweils von Unkraut überwachsen und zu schützenswerten Biotopen mutiert. Die Peripherie nach Brandenburg hin ist hauptsächlich Kleingarten. Über den Sehenswürdigkeitsaspekt hinaus macht eine Mauerrundfahrt als vertikale Tournee durch die Zeit mehr Verbindendes als Trennendes deutlich: Die Renaturierung offenbart den gemeinsamen Leerstand an Utopie. Die weißen Flecken der Stadtpolitik treten als Projektionsfläche vor, und das Gras, das darüber wächst, ist als Zeichen für einen für die ganze Stadt immer noch ausstehenden Zukunftsentwurf, der über die Schließung des S-Bahn-Rings hinaus gehen könnte, zu verstehen. Im Flutlicht längs der Mauer sind Leute abgeschossen worden; im Schatten der Mauer haben sich Leute bereichert, die den Frontstadt-Konsens zur Mauer zwischen Oben und Unten umfunktioniert haben. Die Geschichte ist noch nicht zu Ende.
Das von seinen Architekten als »Chinesische Mauer 2« geplante, nächtlich als Coup d´État neuen Typs dahingeworfene, jahrzehntelang perfektionierte Bauwerk, das auf umstrittenen 164 Kilometern Länge wucherte, schlug seine Schneise durch die Zeit, durch die Landschaft, durch Familien und durch die seit je, aber seit 1948 wirtschaftlich wie politisch manifest gespaltene Stadt. Seit dem 15. Juni 1961 war sie ein semantischer Triumph: der Begriff war dank Ulbrichts Pressekonferenz in der Hauptstadt Geschichte, ehe er verdinglicht stand. »Niemand hat die Absicht, eine ...« - Sie wissen schon - »zu errichten.« Im politisierten Sprachgebrauch war sie längst da. Zwar wurde die Berliner Mauer keineswegs als Chinoiserie konzipiert und als regelrechter Steinverbund stand sie auch nicht da, aber die Funktion der Schutzanlage hat sie übererfüllt, ihre ganzen 28 Jahre lang. Der ideologisch zum antifaschistischen Popanz stilisierte Bau sollte vor Ausverkauf nach Westen schützen, als sozialistischer Druckverband das Ausbluten des Ostblockbrückenkopfs mit seinen drei Buchstaben verhindern. Dem Weltgeist war hier, auf welchem Gefährt er auch immer anlangte, die Grenze gesetzt. Dass hier die deutsche Einheit auf subtile Weise vorbereitet wurde, hat bis auf Beuys niemand bemerkt.
Die Mauer und was von ihr geblieben ist, nur als Schand- oder Mahnmal zu begreifen, greift zu kurz. Hier bleibt Gelegenheit, dialektisches Denken neu zu lernen. Den Konstrukteuren der Mauer - die ja nicht allein im Politbüro auszumachen sind, zu denen auch Hitler als gewissermaßen größter Architekt Europas gehört sowie Stalins Kesselschlachtstrategie und das diplomatische Mauern der Sowjetführung nach ihm - ist der kathartische Weg zur Einheit zu danken. Die Mauer hat ein historisches Bewusstsein geschult, das woanders in der Welt vergessen ist. Sie hat Zwänge verdeutlicht und zugleich die politische Verkrampfung zwischen den Blöcken entspannt. Hier konnte der renitente Geist reflektieren. Als widerständiges Denkmodell wäre sie immer noch brauchbar, aber damit ist man natürlich seit einer ganzen Zeit allein, das Schlagwort »Mauer« hat Vortritt.
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