So stehst du da

Der unverstellte Blick Die Berlin-Fotografien Arno Fischers aus den Jahren 1953 bis 1960

Ich war zwanzig. Soll niemand sagen, das sei die schönste Zeit im Leben. Alles droht einen zu vernichten: die Liebe, Ideen, der Verlust der Familie, der Eintritt in die Welt der Erwachsenen. Schwer, seinen Part zu finden in der Welt.

In der Erinnerung ist das der Anfang von Paul Nizans Pamphlet Aden, ein Text über die Welt, wie sie ist und nicht sein sollte, den ich mit zwanzig Jahren in die Hand bekam, verlegt bei Volk und Welt. Ich habe nichts davon im Kopf als ein Chaos von Bildern, Beschreibung der Deformationen der Natur, des Menschen, die Faszination an der Technik und den Hass des jugendlichen Autors, der die Flucht vor den Feinden des Menschen, Vergessen und Hass, bekämpfen will.

Ich war zwanzig, als ich die Bilder wiedererkannte, Arno Fischers Bilder von einem Berlin, das ich nicht kennen gelernt habe. Mehr als 15 Jahre nach dem Wiedersehen sieht man die Bilder anders an, mit anderen, älteren Augen. Das Personal der Bilder läuft auf steifen Beinen durch die Welt oder hat sie verlassen, zwangsläufig denkt man historisch und ordnet sich selbst ein in die Abfolge der Situationen. Vor 15 Jahren war es leichter, unbewusster.

Arno Fischer. Fotografie aus vier Jahrzehnten war die erste Ausstellung in Berlins erster Fotogalerie, genauer: der ersten öffentlichen Fotogalerie der DDR-Hauptstadt, im Frühjahr 1985. Fotografie galt als Instrument der Propaganda, weniger als Kunst. Die Galerie lag in der untersten Etage einer Neubauzunge, auf der Ecke hochgezogen, die Kurt Maetzig 1946 in der Wochenschau Der Augenzeuge als Stätte historischer Begegnung inszeniert hat. Ein Standbild wurde als authentisch ausgegeben: zwei keilförmige Marschkolonnen, SPD und KPD, stießen zwangsläufig wie es aussah aufeinander, nachdem sie einen Trümmerblock umrundet hatten. Dort nahm das Lückenbauprogramm seinen Anfang, mit dem zur 750-Jahr-Feier Ostberlins 1987 die letzten Kriegsspuren retuschiert werden sollten. Hundert Meter weiter der verrußte S-Bahnhof, jenseits der Gleise VEB Narva, das Glühlampenwerk, heute ein ausgehöhltes Industriedenkmal.

Das Proletariat ist abgeschafft, Handarbeit verschwindet auch. Die Beziehung des Menschen zum Produkt ist eine so oft übersetzte, dass der Blick auf den bekannten, "irgendwie erschaffenen" Gegenstand ein anderer wird, wie der Blick des Menschen auf den Menschen mit ihm. Ein Markenartikel oder eben nicht. Die Entfremdungstheorie nach Marx begreift das nur bedingt. Die Theorie ist im Hintertreffen, Dinge, die wir nicht verändern können, sagt Fassbinder, der Filmautor, sollten wir beschreiben.

Der Fotograf beschreibt mit Licht. Das Unverrückbare der Situationen steht fest. Wer die Wirklichkeit festhalten will, braucht keinen Fotoapparat, aber der Blick auf ein Foto kann hilfreich sein, das Empfundene als wirklich zu erkennen. Sich ein Bild machen, sagt der Volksmund. Die Kunst ist besser als die Wahrheit, sagt Nietzsche. Für die Kultur eines nicht mehr existenten Landes wird der Blick auf die Bilder seiner Vergangenheit zum Blick in die Gegenwart, ohne den die Zukunft blind empfangen wird. Die Landschaft ist eine andere geworden, ihre Bewohner verschwinden. Die Hoffnung auf eine überschaubare Zukunft bleibt. Inzwischen zeichnet sich zumindest im Osten des Landes ab, dass der Trend vom Überangebot zur Übersicht geht, selbst um den Preis der Reduzierung. Ein Überangebot an Gegenwart führt zur Rücksicht in die auch an Bildern ärmere Vergangenheit. Die Suche nach der verlorenen Zeit, ist die Suche nach den Toten, die ihr Leben in der Überlieferung haben: sie ist der Transport ihrer Visionen und der ungelebten Utopie.

Fischers Bilder sind mit ihrem unverstellten Blick ein Teil davon. Der unverstellte Blick sucht die Situation. Die Sensation stört. Fischers Blick durchs Objektiv ist ökonomisch, er focussiert Wesen, die Situation, "trifft" sie, im doppelten Wortsinn seiner Tätigkeit. Soviel Mensch aufs Bild wie möglich, unter Einbeziehung des sozialen Umfelds, von dem die Situation manchmal nur den Radfahrer am Bildrand zulässt oder das Flugzeug zwischen den Wolken über den Giebeln der Stalinallee. Oder die gesichtslose Menge unter dem Palimpsest der sozialistischen Gebote: die überklebte Tafel schwer lastend über der Menschenanhäufung im Hintergrund, die nach etwas anstehen, auf etwas warten, die Abfahrt einer Straßenbahn, Verteilung von Lebensmitteln; ihr Ziel ist eine Blechwand, die das Ziel der Bewegung verdeckt.

Blicke. Das Paar vor den Hochbauten, der auf dem Rand der Blumenrabbatte Sitzende, in die Weite der überdimensionierten Straßenflucht gewandt; die ihm Entgegenkommende lenkt ihren Blick in die Gegenrichtung darüber hinweg, ob sie sich begegnen, müssen wir vermuten. Der Junge, mit verschränkten Armen in der Menge der Schulkinder stehend: mit klar abschätzendem Blick sieht er in Gegenrichtung des Kameraauges. Das Mädchen auf dem Kinderrad: ihr Blick im Gegenlauf der sie umstreifenden Passanten, quer aufsteigend zum Betrachter, den sie nicht sieht. Das Liebespaar inmitten der Menge, die ihre Blicke aus dem Bildausschnitt streut, die junge Frau, an der Hand des Freundes gehend, sieht wie in die Zeit zurück.

Ein Feiertag in der Stalinallee. Ein Verkehrsstau am Zoo. Der Fotograf, seine Herkunft ist der Westen der Stadt, seine Heimat der Osten, als Spaziergänger dazwischen. Der Westberliner Schupo am "Anfang des demokratischen Sektors von Groß-Berlin" wird ihn gesehen haben, als er der Touristengruppe entgegen auf den ostberliner Vopo unter den Säulen des Brandenburger Tores zulief. Und der Hund, der gegen den Atomtod in Berlin-Charlottenburg kackt.

Blicke. Die distanzierten Grüppchen Ost wie West, die, umgeben vom Vokabular der Ideologien, das ihnen scheint´s Entlegene betrachten, oft von erhöhtem Standort aus, den die Hinterlassenschaft des Krieges zahlreich bietet. Die Komposition der Bilder, wie komplex und vielschichtig sie scheint, hat ihren Akzent auf der Erzählung. Ihr Motiv ist der Mensch. Fischers Bilder wehren sich dagegen, dass es anders kommt, die Randfiguren des Geschehens demonstrieren das: Es ist ihr Blick, direkt gerichtet, schweifend oder distanziert, der uns Betrachter zum Personal ihrer "Handlung" addiert. Was die Vertreter der jeweiligen Klasse, Schicht, Staatsangehörigkeit im Blickwinkel des Fotografen eint, ist ihre Position am Rand des Geschehens. Sie sehen zu. Etwas bewegt sich, von ihnen weg/zu ihnen hin. Der Applaudierende in der Wüste einer Menge von hinten, vor ihm die Stoßstange eines Regierungswagens, die Konfrontation der Abwesenheiten. Der starre Blick des Bannerträgers einer Landsmannschaft reiht ihn, der dazu gehören will, unter die Objekte der Geschichte, an den Rand. Der zu Boden geneigte Blick des alten Mannes unter Fahnen am 1. Mai in der ostdeutschen Hauptstadt rückt auch ihn, der im Zentrum steht, an den Rand.

In der Galerie am Helsingforser Platz sah ich, dass ich viele dieser Bilder schon gesehen hatte. Ich wusste nicht wo, ich kannte ihren Autor nicht, es war das Wiedersehen mit Bekanntem. Eigenartig, dem nun einzeln und einem Fotografen zugeordnet, den es wirklich gibt, zu begegnen. Fast betäubend die Erfahrung, dass die Bilder, vor meiner Lebenszeit aufgenommen, mehr Gegenwart reflektierten, als ich bislang wahrgenommen hatte. Das blinde Mädchen auf dem Weihnachtsmarkt 1953. Sie steht mit dem Rücken zum bemalten Kassenhaus, durch eine Kette vom Publikum wie vom Betrachtenden getrennt. Im Hintergrund ein Mann mit Hut, unscharf in der Bewegung, mit der er sein Spaßprodukt antreibt oder anzutreiben scheint. Die Konzentration der Blinden, abzulesen an der gespannten Haltung, oder die Illusion dieser Haltung durch die geschlossenen Augen. Ihre linke Hand in der Unschärfe heftiger Regung, die Rhythmus oder Schreck mit der Tätigkeit im Hintergrund verbindet. Die Blinde, zwischen 15 und 25 zu schätzen, in meinem Alter, dachte ich, so stehst du da. Die Lehrlinge bei Bergmann-Borsig, die auf ihr eigenes Porträt zu blicken scheinen, in Betrachtung einer im Bild nur angedeuteten Maschine versunken.

Andere Bilder zeigen Trümmer, Menschen in Trümmern. Auch das hatte ich gesehen. Ruinen gehören zum Bestand der frühesten Erinnerung. Musste ich wegen einer Kinderkrankheit in die Charité, waren in Grenznähe sortierte Trümmerhaufen zu sehen, am Deutschen Theater der Flakbunker, ein gut gekühltes Hauptquartier für Obst Gemüse, später ein Techno-Palast. An der Oranienburgerstraße die Kolossalruine Haus der Technik, in einem Seitenflügel Kino Camera, subversiv durch Information, ein Festspielort des neorealistischen Films; der letzte, konservierte Stumpf der Ruine beherbergt heute das Kunsthaus Tacheles. Der Gendarmenmarkt von den Domruinen flankiert, in der Mitte ein Mahnmal aus Schutt, heute Konzerthaus. Zwischen Rotem Rathaus und Marienkirche wucherte der Fernsehturm, rings strahlender Neubau. Über den Alex fuhr die Straßenbahn, Doppelstockbusse, Baujahr 1930, unterquerten die Bahnhofsbrücke Friedrichstraße, an der das elektrische Laufband die Nachrichten des Neuen Deutschland umwälzte. Wer in den Sechzigern im Osten aufwuchs, hatte eine Nachkriegskindheit, wer im Westen aufwuchs, hatte Frontstadt, die Front war die Schaufensterscheibe. Bunkerreste und Ruinen versprachen Bewegung: das dort kommt bald weg, seltener: das kommt dort wieder hin.

Deutlich ist der Unterschied zu Robert Capas Aufnahmen vom Berliner Sommer 1945: Capa fotografiert aus der Perspektive des als Besatzer Heimgekehrten, im Auftrag für Life. Sein Blick ist entfernter, kommt oft von oben, bevorzugt in der Totalen, vermutlich vom Jeep. Capas Situation ist die Minute nach Null, die Stunde der Befreiten. Zehn Jahre später Restauration, Kriegsgefahr, Skepsis, Phrasen, wenig Gelöstheit. Im Osten steht mehr Raum für die Hoffnung jenseits der Trümmer, mehr Tageslicht, im Westen Klischee und Reklame. Die Situationen rasen voneinander fort, auf die Mauer, an der auch Situation Berlin als schon gedruckter Bildband scheitern sollte, zu. Der Kunstwissenschaftler Ulrich Domröse hat nun, eine DDR-Zeit lang nach der Drucklegung des nie veröffentlichten Bandes im Herbst 1961, eine von Fischer autorisierte neue, neu sortierte Auswahl der Berlin-Bilder zwischen 1953 und 1960 herausgegeben - vom Negativ und teils versehen mit den Spuren ihrer langen Lagerung - unter dem nämlichen Titel.

Dem Wortwitz eines Kritikers zufolge ist Arno Fischer der bekannteste der unbekannten unter Deutschlands Fotografen. Der Irrtum, dass zu wenige von Fischers Bildern verbreitet sind, hat ihn für Mythen prädestiniert. Dass er seit der deprimierenden Erfahrung mit dem ersten Bildband kein Berlin mehr fotografiert hat, gilt unter Fotografen als Naturgesetz. Wenige Ausnahmen zur Jahreswende 1989/90 widerlegen das nicht. Er selber sagt, sein Jagdinstinkt sei, was die Stadt betrifft, erloschen, und die Jagd tötet die Liebe zum Motiv. Die Landschaft ändert sich schneller, als ihre Bewohner verschwinden. Arno Fischer, geboren 1927, hat sich um den verschollenen Ruhm der Hauptstadt Berlin nie gekümmert, dem wiederkehrenden Ruhm steht er mit der Kamera gegenüber. "Ich fang wieder an, Bilder zu sehen", ist sein in letzter Zeit zumeist gebrauchtes Wort.

Fischers Situationsbeschreibung endet 1960. Sie setzt mit der historischen Zäsur 1989/90 reflektierend wieder ein, um dann bis heute wieder auszusetzen. Zwei Bilder, zu sehen in dem Band Photographien (Leipzig 1997), bilden die Klammer: Westberlin 1959 - Ostberlin Silvester 1989. In beiden ist Schrift in der Mittelachse zu erkennen, beide Male spiegelverkehrt. Das eine, frühe, zeigt die überlebensgroß montierten, vermutlich ostwärts gerichteten Lettern "Berlin bleibt frei", davor die aus dem Bild drängende Front eines Mercedes Benz, ein Dienstfahrzeug; Fahnen, die der Freiheit keinen Namen geben, sie haben keinen Wind. Das späte Bild zeigt die Totale von Nordost, den Blick gerichtet über das von Feuerwerk umrauchte Brandenburger Tor in der unteren Bildmitte, von dunklen Torsi perforiert, die Körper im Moment erstarrt. Die Schrift auf der Banderole zwischen zwei Masten, auf dem vorderen hockt mit ausgebreiteten Armen ein Jubelnder wie Christ am Kreuz, weist westwärts "in die Neunziger".

Der Fotograf erscheint auf seinen Bildern nicht, in einem hat er den Abschied inszeniert. Es zeigt die sozialistische Melancholia, diskret von hinten aufgenommen, von vorne kommt Licht, nicht auszumachen, ob Morgen- oder Abenddämmerung. Die allegorische Figur im Zentrum, eine lebensgroße Plastik, die "Die Turnerin" heißen könnte, hält einen Bronzereifen in die Höhe, das Licht wird sie nicht fangen. Bäume und Hecken ringsum sind kahl, Gransee bei Berlin 1989. Bevor der nächste Staat zusammen fällt, bevor man wieder seinen Part in der Welt sucht, sollte man auch diese Bilder sehen.

Alle Bilder entnommen aus:
Arno Fischer: Situation Berlin. Fotografien 1953 bis 1960. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 2001, 129 S., 54,48 DM

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